Hier werden also neben den beiden hauptsächlich dominierenden Stilen aus Italien und Frankreich noch zwei weitere „Geschmäcker“ erwähnt: die Englische und Polnische „Ahrt“.
Dass Telemann ausdrücklich den Polnischen Stil nennt, verwundert nicht, da er seiner Faszination von dessen barbarischer Schönheit immer wieder in seinen Autobiografien Ausdruck gegeben hat und er ihn sein ganzes langes Komponistenleben über als Ingredienz in seinen Personalstil eingeschmolzen hat.
Aber was verbirgt sich eigentlich hinter der Englischen Ahrt?
Heutige Literatur, die sich mit dieser Frage beschäftigt oder eine Antwort darauf geben könnte, habe ich bislang nicht ausfindig machen können. Selbst im viele hundert Seiten dicken Buch von Steven Zohn über Telemann und seinen Mixed Style wird der englische Anteil nicht einmal erwähnt, geschweige denn genauer beschrieben.
Also müssen wir uns selbst auf Spurensuche begeben!
Ich möchte dies in 3 Recherche-Schritten unternehmen:
1) Suche nach Erwähnung oder Beschreibung der „Englischen Art“ in zeitgenössischen Quellen.
2) Sammlung von Beispielen und Betrachtung musikalischer Satztypen à l’Angloise anhand von expliziten Werken Telemanns, J. S. Bachs, Faschs und Graupners.
3) Identifizierung möglicher weiterer Referenzen auf englische Musik oder deren Stilelemente.
Zur Klarstellung vorab:
Es geht in diesem Beitrag keineswegs um eine Beschreibung der Stilelemente von typisch englischer Musik des 16.–18. Jahrhunderts. Hier ist zweifelsohne eine gründliche Stilanalyse über mehrere Jahrhunderte hinweg möglich – schließlich weist das Musikrepertoire der Insel einzigartige Charakteristika auf – und trotz immer wieder stattfindender Einflusswellen vom Kontinent, vor allem aus Frankreich und Italien, gibt es deutlich beschreibbare spezifische Stilelemente englischer Musik, etwa für die Consortmusik oder die Lautenlieder der Elisabethanischen Epoche, die Masque-Tradition und natürlich auch für den Stil solch charakteristischer Köpfe wie Matthew Locke, John Blow oder Henry Purcell.
Es geht an dieser Stelle vielmehr um die „Exportvariante“ englischer Stilelemente im Hochbarock, und dabei um das, was in Deutschland, vor allem bei Johann Sebastian Bach, Georg Philipp Telemann, Johann Friedrich Fasch und Christoph Graupner als „à l’Angloise“ angesehen wurde, also um den Anteil als „englisch“ verstandener Musik im Rahmen des Vermischten Geschmacks. Auf ein kulinarisches Beispiel übertragen: Es geht nicht um die Kultur der Pizza in Neapel, sondern deren Rezeption etwa in New York oder Helsinki. Aus einem solchen „Export“ entstehen ja bekanntlich oft völlig neue Schöpfungen, die dann unabhängig von ihrer Herkunft ein Eigenleben entwickeln wie im Falle der sogenannten Französischen Ouvertüren-Suite, die ja musikgeschichtlich als ein eher deutsches Phänomen zu sehen ist.
Also zurück zu den drei Schritten unserer Untersuchung:
1) Wo ist von Englischen Stilelementen auf Titelblättern, in Lexika oder anderen Traktaten die Rede?
Als erstes fallen mir die „Englischen Suiten“ von J. S. Bach ein.
In einigen historischen Lexika und Schriften wie Johann Matthesons Der Vollkommene Capellmeister und Johann Gottfried Walthers Musicalisches Lexicon finden sich kurze Einträge zu den Themen „Angloise“, „Hornpipe“ oder „Gigue“. Wie schon gesehen, weist Georg Philipp Telemann den Englischen Stil auf dem Titelblatt seines getreuen Music-Meisters aus.
In einigen weiteren Lexika und Traktaten des 18. Jahrhunderts lassen sich kurze Einträge ausfindig machen, die in diesem Zusammenhang von Interesse sein können, so auch in Johann Joachim Quantz‘ Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen.
2) Wo finden wir konkrete musikalische Beispiele?
Telemann ist vergleichsweise ergiebig in dieser Hinsicht:
Eine Hauptquelle für Stücke mit Verweis auf England (aber auch Schottland und Irland) bilden seine Ouvertüren-Suiten für Orchester. Schaut man sie durch, stößt man auf eine Reihe von Einzelsätzen, die den Zusatz à l’Angloise tragen, in jeweils einem Fall auch auf eine Irlandaise und eine Ecossoise.
Der wichtigste Satztyp des Englischen Stils in diesen Ouvertüren-Suiten ist neben verschiedenartigen Giguen zweifellos die Hornpipe – und genau die finden wir ebenfalls gelegentlich in Ouvertüren-Suiten von Johann Friedrich Fasch und Christoph Graupner.
Außer den Giguen und Hornpipes spielt noch ein weiterer, schlicht als Anglaise bezeichneter Allegro-Satztyp im 2/2-, zuweilen auch 2/4-Takt eine Rolle.
Was Telemanns getreuen Music-Meister betrifft, verwundert es, dass er den im Titelblatt genannten Polnischen, Italienischen und Französischen Stilrichtungen explizit mehrsätzige Werke widmet (Sinfonie à la Françoise für Traversflöte, Sonata da chiesa für Violine oder andere Instrumente, Ouverture à la Polonoise für Cembalo), die angekündigte Englische Ahrt aber in der Gesamtpublikation nur in Zusammenhang mit zwei kurzen Sätzchen erwähnt: einer Gigue à l‘angloise im Rahmen einer Partita für Cembalo und einem Hornpipe überschriebenen Einzelsatz .
Aber auch Johann Sebastian Bach nennt die Anglaise: Jeder, der Flöte spielt, kennt die Bourrée angloise aus der Solopartita in a-Moll BWV 1031.
Und – ein Anglaise überschriebener Satz findet sich ausgerechnet in der Französischen Suite für Cembalo h-Moll BWV 814. (Allerdings gibt es zu denken, dass der Komponist in einer früheren Fassung der Suite diesen Satz – eigentlich recht unzutreffend – Gavotte nennt, so wie er in der 6. Suite derselben Sammlung einen anderen Satz erst Menuett und dann später spezifischer Polonoise überschreibt.)
Georg Friedrich Händel ist ein Sonderfall, da er als Quasi-Engländer immer wieder Hornpipes in der Tradition von Henry Purcell wohl auch als Signal an seine Wahlheimat komponiert: in der Kammermusik wie in seiner Flötensonate d-Moll/h-Moll, in der Orchestermusik (Wassermusik) und auch in Vokalwerken mit Textbezügen (z. B. der Arie Sento la gioia aus Amadigi).
3) In welchen Werken finden sich Stilelemente „à l'angloise” ohne deren Nennung im Titel?
Der dritte Schritt ist natürlich für uns ausführende Musiker von allergrößtem Interesse: Da in vielen Fällen vor allem Tanzsätze nicht mit ihren Typenbezeichnungen überschrieben sind – und man sich so selbst anhand verschiedener Charakteristika wie Taktart und eventueller Periodizität oder charakteristischer rhythmischer oder melodischer Muster erklären muss, warum dies oder jenes ein Menuett, eine Polonaise oder eine Corrente ist – könnte es ja sein, dass man in manchen Fällen auch typische Sätze à l’Angloise identifizieren könnte, sobald unser Blick für deren Charakteristika geschärft ist.
Gehen wir die genannten drei Punkte nun noch einmal im Detail durch:
Da ist zunächst die Frage nach den Englischen Suiten von J. S. Bach. Es scheint allerdings, als ob unsere Spurensuche hier gleich auf eine falsche Fährte führt, denn bis heute weiß wohl niemand wirklich, warum diese Suiten die Englischen heißen: Der Titel stammt höchstwahrscheinlich nicht von Bach selbst. Die Autografen sind nicht erhalten, es existieren nur Abschriften. Auf einem Handexemplar von Johann Christian Bach findet sich der rätselhafte Vermerk „fait pour les Anglois”. Bachs erster Biograf Johann Nikolaus Forkel vermutet einen reichen Engländer, der die Werke in Auftrag gegeben haben könnte.
Die sechs sogenannten „Englischen Suiten“ BWV 806–811 sind Bachs erste große Suiten-Sammlung für Cembalo, wohl noch aus seiner Weimarer Zeit um 1715, also entstanden vor den sogenannten „Französischen Suiten“ BWV 812–817 und den Partiten aus der Clavierübung BWV 825–830. In ihrer stilistischen Ausrichtung sind sie nichts weniger als englisch, dafür verraten sie in den groß angelegten Préludes die Beschäftigung mit dem konzertanten Prinzip Antonio Vivaldis und in den Tanzsätzen die mit französischen Vorbildern, sogar in noch höherem Maße als dies bei den sogenannten „Französischen Suiten“ der Fall ist.
Besonders die erste Suite in A-Dur weist einige Zitate aus Suiten von Charles Dieupart auf, die um die Jahrhundertwende im Druck erschienen waren, und von denen sich Bach zwei eigenhändig als Muster abgeschrieben hatte. Und jener gebürtige Franzose Dieupart wirkte nun mal in London; es könnte also sein, dass sich die Bezeichnung auch darauf bezieht. Typisch englische Stilelemente lassen sich in diesen Werken Bachs aber meines Erachtens nicht ausfindig machen.
Kommen wir zu den Erwähnungen in den historischen Traktaten:
Hier gibt es, wie gesagt, Einträge zu den Themen Angloise oder Anglaise , Hornpipe und Gigue.
Zum Stichwort Angloise heißt es in J. G. Walthers Musikalischem Lexikon von 1732:
Ein engländisches Tanz und Klingstück, so aus rückenden Noten bestehet.
Zu Gigue bemerkt Walther:
Die „Giga“, Gigue oder Gicque ist eine Instrumentale-Piece, welch als ein behender englischer Tanz aus zwo in 3/8, 6/8 oder 12/8 Takt gesetzten Reprisen bestehet.
Johann Mattheson schreibt in seinem Vollkommenen Capellmeister 1739 zur Hornpipe:
Die Hornpipen sind scotländischer Abkunfft, und haben bisweilen so was ausserordentliches in ihren Melodien, daß man dencken mögte, sie rührten von den Hofcompositeurs am Nord= oder Süd=Pol her. Wer sie indessen zu untersuchen die Mühe nehmen, und, was er daraus begriffen, zu rechter Zeit wol anwenden will, kan auch schon seinen Nutzen daraus ziehen. Man spielet sie in Scotland auf einem Instrument, das unserer Sackpfeiffe einiger maassen ähnlich ist, und von den Frantzosen Musette genannt, [...]. Ich will doch zur Probe etwas weniges von solchem scotländischen Tantze hersetzen, weil man sonst in keinem Buche Nachricht davon findet. (Teil 2, Kap. 13, § 112)
Darauf druckt Mattheson eine kurze rustikale Melodie im 3/2-Takt ab, die jedoch das Hauptcharakteristikum der Hornpipe, ihre synkopierten Fortgänge bzw. ihre rückenden Noten über Notenwerten in Halben nicht enthält.
Übrigens übernimmt J. H. Koch in seinem Musiklexikon von 1802 Matthesons Beschreibung wörtlich mitsamt des Notenbeispiels.
Und auch in Matthesons Eintrag zu den Giguen findet sich ein Hinweis auf England:
Er unterscheidet zwischen 4 Typen von Giguen die Gewöhnliche, die Loure, die Canarie und die Giga:
Die gewöhnlichen oder Engländischen Giquen haben zu ihrem eigentlichen Abzeichen einen hitzigen und flüchtigen Eifer, einen Zorn, der bald vergehet. Die Loures oder langsamen und punctirten zeigen hergegen ein stoltzes, aufgeblasenes Wesen an: deswegen sie bey den Spaniern sehr beliebt sind: die Canarischen müssen große Begierde und Hurtigkeit mit sich führen; aber dabey ein wenig einfältig klingen. Die welschen Gige endlich, welche nicht zum Tantzen, sondern zum Geigen (wovon auch ihre Benennung herrühren mag) gebraucht werden, zwingen sich gleichsam zur äussersten Schnelligkeit oder Flüchtigkeit; doch mehrentheils auf eine fliessende und keine ungestüme Art: etwa wie der glattfortschiessende Strom=Pfeil eines Bachs. (Teil 2, Kap. 13, § 102)
In Johann Joachim Quantz‘ Versuch finden wir in § 58 des XVIII. Hauptstücks eine interessante Bemerkung. Es handelt sich um jenen Absatz, in dem er über „zweene berühmte lombardische Violinisten“ (gemeint sind Vivaldi und Tartini) und über den neuen lombardischen Geschmack schreibt, [...] welcher darinne besteht, daß man bisweilen, von zwo oder drey kurzen Noten, die anschlagende kurz machet, und hinter die durchgehende einen Punct setzet, und welcher Geschmack ohngefähr im Jahre 1722 seinen Anfang genommen hat, [...]. Es scheint aber diese Schreibart, wie einige Merkmaale zu erkennen geben, der Schotländischen Musik etwas ähnlich zu seyn; sie ist auch wohl schon zwanzig Jahre vor ihrem Aufkommen in Italien, von einigen deutschen Componisten [...] angebracht worden: folglich könnte sie bey den Welschen nur als eine Nachahmung der itztbenennten angesehen werden.
Quantz (oder sein vermutlicher Ghostwriter Agricola!?) stellt also eine gewagte Verbindung her zwischen den charakteristischen „rückenden Noten“ der Hornpipes zu den Synkopierungen und typischen „lombardischen“ rhythmischen Figuren des Galanten Stils, wie er ca. ab 1725 ganz Europa erobert.
Es bleibt möglicherweise Inhalt weiterer Untersuchung, ob sich für diese Verbindungslinie wirklich Belege finden lassen. Ich glaube nicht daran: während die Synkopierungen des „Englischen“ wie auch des „Polnischen Stils“ folkloristische und eher urwüchsige Elemente darstellen, werden die „galanten“ rhythmischen Patterns ja eher als Ausdrucksmittel eines verfeinerten Geschmacks und Gefühls, als Anteil des „Agréablen“ in der Musik verstanden.
Halten wir aus all diesen Eintragungen fest:
- - Wenn von Stücken à l’Angloise die Rede ist, handelt es sich ausschließlich um Tänze.
- - Es herrscht Unsicherheit in mancher Hinsicht, vor allem auch auf die Etymologie des Wortes Gigue, die bis heute nicht gänzlich geklärt ist.
- - Der „engländische” Stil wird als exotisch empfunden, wie Mattheson mit seiner Bemerkung von den Komponisten vom „Nord- und Südpol“ belegt. (Übrigens ähnelt seine Formulierung, dass man trotzdem als Komponist Nutzen daraus ziehen könne, frappant Telemanns Bemerkung, was man aus der polnischen Folklore lernen könne.)
Wir sollten nun noch konkreter einige Notenbeispiele zu den drei Stichworten Hornpipe, Angloise und Gigue à l' Anglaise betrachten – mit der Frage, inwieweit sich daraus ein charakteristisches Bild ergeben könnte.
Der wichtigste Satztyp des englischen Stils ist für die Komponisten auf dem Kontinent zweifellos die Hornpipe. Im Gegensatz etwa zur Gigue a l’Angloise ist sie auch (trotz Quantz‘ Bemerkung) kaum verwechselbar mit anderen Typen.
Hier die gute und zutreffende Beschreibung einer Hornpipe aus Wikipedia:
Die Hornpipe ist ein traditionelles englisches Tanzstück in lebhaftem Tempo, das ursprünglich im 3/2-Takt notiert wurde. Um 1760 ging der Name über auf Musikstücke im 2/4- oder 4/4-Takt. Sie ist benannt nach dem gleichnamigen alten, besonders in Wales und Schottland verbreiteten Blasinstrument. Charakteristisch für Hornpipe-Stücke in der Musik des Hochbarock ist eine gewisse Vorliebe für Synkopen und Akzentverschiebungen: Passagenweise spielt eine Stimme oder eine Gruppe von Stimmen gegen den Rhythmus der anderen Stimme an. Vor allem die Bassstimme hält in der Regel ein durchgängiges Metrum fest, nicht selten in Form von 'stur' durchgehaltenen, beinahe 'stampfenden' Halben (in 3/2) oder Vierteln (in 3/4). Neben den synkopischen Verschiebungen und/oder Akzenten ist die Melodik oft ausgesprochen lebhaft und fröhlich, und von charakteristischem Laufwerk durchbrochen. Typisch sind auch Sprünge und/oder Akkordbrechungen. Viele Melodien haben einen ziemlich großen Umfang (bis zu 2 Oktaven), wie schon Mattheson beobachtete.
Als bekanntestes Muster für eine Hornpipe können wir wohl die aus Henry Purcells Abdelazer ansehen, heutzutage auch bekannt als das Thema der Orchestervariationen von Benjamin Brittens The Young Persons Guide to the Orchestra.