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Wagenseil oder Wendling? Beobachtungen an einem Allegro-Satz für Traversflöte und Generalbass Fachartikel

 

Flöte mit Basso continuo ist eine der Standardbesetzungen der Kammermusik des Generalbasszeitalters. Bekannt sind heute hauptsächlich die Werke von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann und ihren Zeitgenossen. Einige Werke der Generation der Bach-Söhne und -Schüler, wie z. B. von Johann Philipp Kirnberger (1721–1783) und Johann Gottfried Müthel (1728–1788), gehören ebenfalls zum bekannten Repertoire. Als spätestes Beispiel für diese Besetzung gilt meist Carl Philipp Emanuel Bachs „Hamburger Sonate“ von 1786.

 

Dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – und auch später – noch Sonaten mit Generalbassbegleitung entstanden sind, die über den empfindsamen und den galanten Stil hinausgehen, wird heute nur selten wahrgenommen. Dieses Repertoire steht der Wiener Klassik nahe und hätte sowohl vom musikalischen als auch vom spieltechnischen Anspruch her heute mehr Aufmerksamkeit verdient. Unter anderen haben folgende Komponisten zu dieser Gattung Beiträge hinterlassen:

 

Georg Christoph Wagenseil (1715–1777), Charles Delusse (ca. 1723–1798), Johann Baptist Wendling (1723–1797), Felix Rault (1736–ca.1800), Johann Gottlieb Nicolai (1744–1801), Franz Anton Hoffmeister (1754–1812), François Devienne (1759–1803) und Antoine Hugot (1761–1803).

 

Zu diesem Repertoire gehört auch die Sonate in D-Dur für „Flauto Traverso Solo“ mit Bass von Georg Christoph Wagenseil, die im Manuskript unter der Signatur D. 10.832 in der Bibliothèque Nationale de France in Paris verwahrt wird. Im Wagenseil-Werkverzeichnis1 trägt sie die Nummer WV 513. Rudolf Scholz hat die Sonate 1972 als Erstausgabe publiziert2 und die Vermutung geäußert, dass sie „ihrer stilistischen Haltung nach um 1765 entstanden sein dürfte“. Gabriele Busch-Salmen hat das Werk 1987 dem „italienischen Gusto“ zugeschrieben.3

 

Die Sonate ist nach dem Muster der barocken Sonata da camera dreisätzig angelegt. Ihr Allegro-Kopfsatz taucht allerdings in einer anderen Fassung auch als zweiter Satz der Sonate op. 4 Nr. 3 von Johann Baptist Wendling (1723–1797) auf. Hier hat er die Tempobezeichnung „Allegro moderato“. Das Opus 4 des Flötisten Wendling besteht aus sechs Sonaten für Flöte und Bass und wurde 1774 in Paris gedruckt. Der Titel lautet:

 

SIX | SONATES | POUR | LA FLUTTE | Avec Accompagnement de Basse |

composes par | M. WENDLING | ŒUVRE IV. […] A PARIS […]4

 

Der Satz beginnt in den beiden Quellen so:

 

Abb. 1: Wagenseil
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Abb. 2: Wendling
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Wer hat von wem abgeschrieben? Welche Absicht steht hinter den Änderungen? Im Folgenden sollen die wesentlichsten Unterschiede der beiden Fassungen dieses Satzes beschrieben werden. Dabei werden für die Wagenseil-Version die Taktzahlen der Erstausgabe zugrunde gelegt, die Wendling-Fassung wird nach dem Erstdruck durchgezählt.

 

Abb. 3
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Offensichtlich wird bei Wagenseil an dieser Stelle das fis3 vermieden. Eine ähnliche Abweichung ist später nochmals zu finden:

Abb. 4
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Im Bass gibt es jedoch auch abweichende Partien:

 

Abb. 5
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In T. 21 erscheint der Wagenseil-Bass als „modernere“ Weiterentwicklung der Wendling-Version. Dagegen ist T. 23 bei Wagenseil fehlerhaft: Die beiden letzten Viertel müssen wohl eine Terz höher als gis 0 und e 0 gelesen werden.

 

Bei Wendling werden die Takte 26 und 27 als Takte 28 und 29 wiederholt, bei Wagenseil entfällt diese Repetition. Dadurch ist der erste Teil bei Wendling um zwei Takte länger und die Taktzahlen verschieben sich gegenüber der Wagenseil-Fassung:

 

Abb. 6
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Besonders interessant ist der Beginn des 2. Teiles in den beiden Flötenstimmen:

 

 

Abb. 7
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Wendlings Version scheint die ursprünglichere und logischere zu sein. Bei einer genauen Transposition des Satzbeginns in die Dominante müsste allerdings die 7. Note von Takt 48 a3 lauten. Dieser Ton wird jedoch im Opus 4 von Wendling und auch in den anderen Sätzen der Wagenseil-Sonate nirgends verlangt. Dagegen zeigt die Fassung bei Wagenseil einen anderen Versuch, das a3 zu vermeiden. Möglicherweise hat beiden Fassungen eine korrekt transponierte Version mit a3 zugrunde gelegen. Für den Druck Wendlings und die Wagenseil-Abschrift wären dann unterschiedliche Wege zur Vermeidung des Spitzentons a3 eingeschlagen worden.

 

Direkt danach sind in den Flöten- und den Bassstimmen größere Abweichungen zu finden:

 

Abb. 8
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Die Bassführung ist bei Wendling in T. 50 sicher fehlerhaft. Vermutlich sollte das zweite und das dritte Viertel e 0 und fis 0 lauten, wie bei Wagenseil.

 

Der Modulationsteil der Wagenseil-Fassung (Takte 54 bis 64) ist bei Wendling nicht vorhanden. Ist er bei Wendling einer Kürzung zum Opfer gefallen oder wurde er bei Wagenseil ergänzt? Für letzteres spricht, dass modulierende Passagen anstelle der später üblichen thematischen Durchführung typisch sind für Sonatensätze aus der Frühzeit der Wiener Klassik. Eine entsprechende Erweiterung kommt also einer „Modernisierung“ gleich.

 

Abb. 9
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Beim Takt 62 handelt es sich um eine Ergänzung, die Rudolf Scholz in seiner Ausgabe vorgenommen hat, weil im Bass sonst ein Sequenzglied gefehlt hätte.5 Vielleicht handelt es sich um einen Irrtum in der Pariser Abschrift.

 

Bei Wendling folgt als T. 52–61 eine genaue Wiederholung der Takte 1–10. Wagenseil lässt den Themenkopf aus, setzt erst analog zu Takt 5 ein und spinnt die Sechzehntelfigur anders und länger weiter (T. 65–73). Ein sonst nicht vorkommendes, neues Motiv schließt sich an:

 

Abb. 10
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Auch hier erscheint es wahrscheinlicher, dass es sich bei Wagenseil um eine Erweiterung handelt, als dass Wendling eine gekürzte Fassung wiedergibt.

 

In den folgenden Takten ist zwar die Flötenstimme in beiden Fassungen weitgehend identisch, der Bass ist jedoch bei Wagenseil reichhaltiger ausgearbeitet: 

Abb. 11
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Analog zu den Takten 27 und 28 im ersten Teil werden bei Wendling die Takte 67 und 68 als T. 69–70 mit verändertem Bass wiederholt, bei Wagenseil erscheinen sie nur einmal (T. 88–89). In den folgenden Takten zeigen die beiden Fassungen eine modifizierte Melodik in den Flötenstimmen. Der Bass unterscheidet sich nur wenig, scheint aber bei Wagenseil charakteristischer als bei Wendling.

 

Abb. 12
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Wendlings Fassung schließt mit einer Wiederholung der Takte 1 und 2 und einer schlichten Kadenz. Wagenseil beschließt den Satz wirkungsvoller mit einem Rückgriff auf das Moll-Motiv des ersten Teils (Wendling T. 38, Wagenseil T. 36): 

 

Abb. 13
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Durch den Vergleich der beiden Fassungen ist die anfangs erwogene Deutung, dass Wendlings Fassung eine gekürzte Version des Wagenseil-Satzes darstellt, sehr unwahrscheinlich geworden. Eher ist davon auszugehen, dass Wagenseil auf den Sonatensatz von Wendling zurückgriffen und diesen erweitert hat. Es ist nicht auszuschließen, dass ihm der Satz in einer anderen Fassung als der 1774 gedruckten vorlag. Durch die Erweiterung rückt der Satz stilistisch weiter vom galanten Stil der Barockzeit weg und nähert sich der Wiener Klassik an.

 

*****

 

Nach dem Vergleich der beiden Fassungen scheint es sinnvoll, auch andere Flötensonaten von Wagenseil und Wendling in die Betrachtung einzubeziehen.

 

Von Georg Christoph Wagenseil ist das Manuskript einer weiteren Flötensonate überliefert. Sie steht in G-Dur und wird von Helga Scholz-Michelitsch im Wagenseil-Werkverzeichnis unter WV 514 geführt. Det Kongelige Bibliotek in Kopenhagen bewahrt die Handschrift unter der Signatur Mus 6210.1630 auf. Die Sonate ist musikalisch schlicht und spieltechnisch weniger anspruchsvoll als der hier untersuchte Sonatensatz. Für einen Stilvergleich sind Wagenseils SEI SONATE a Flauto Solo E Baßo o Alto Viola 6, gedruckt 1775 in Paris, aussagekräftiger. In allen sechs Sonaten kommen keine höheren Töne als das e 3 vor. Wagenseil stimmt darin mit Johann Joachim Quantz überein, der 1752 geschrieben hat: Das dreygestrichene E ist eigentlich der höchste brauchbare Ton, welchen man zu allen Zeiten angeben kann.7 Die gleiche Beschränkung ist im zweiten und dritten Satz der Sonate WV 513 zu finden. Dagegen kommen im hier untersuchten Allegro auch f 3, fis 3 und g 3 vor – und dies, obwohl im gleichen Satz an anderen Stellen das fis 3 offensichtlich vermieden wird. Darüber hinaus sind Wagenseils Sonaten von 1775 – wie auch der zweite und dritte Satz der D-Dur-Sonate – spieltechnisch weniger anspruchsvoll als der erste Satz der Sonate.

 

Von Johann Baptist Wendling ist außer seinem Opus 4 von 1774 noch eine weitere Sammlung von sechs Flötensonaten mit Generalbass erhalten, gedruckt um 17608 in Paris als sein Opus 1.9 Gegenüber seinem Opus 4 verlangt Wendling im Opus 1 von der Flöte eine größere Beweglichkeit. Auch der Tonumfang ist größer und reicht über f 3, fis 3 und g 3 bis zum a 3. Die demonstrative Verwendung von fis 3 und g 3 erinnert an Mozarts Flötenkonzert G-Dur KV 313 (285c) von 1777 und das Konzert G-Dur op. 29 von Carl Stamitz, das um 1789 veröffentlicht wurde.

 

Vergleicht man die Bassstimmen der Sonatenzyklen Wagenseils und Wendlings, so wird deutlich, dass Wendling schlichtere Bässe bevorzugt, die nur selten imitatorisch mit der Flötenstimme in Verbindung treten. Wagenseil führt dagegen in vielen Sätzen den Bass dialogisch mit der Flötenstimme. Dies entspricht den Beobachtungen an dem D-Dur-Sonatensatz. Der große Tonumfang der Flötenstimme von Wendlings Sonaten op. 1 lässt vermuten, dass auch im D-Dur-Sonatensatz ursprünglich das a3 vorgesehen war, jedoch nachträglich eliminiert wurde.

 

Rudolf Scholz vermutete, dass die Wagenseil-Fassung um 1765 entstanden ist. Im Kontext der hier genannten Werke erscheint jedoch ein Zeitraum zwischen 1770 und 1775 als wahrscheinlicher.

 

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In der heutigen Zeit mögen solche „Bearbeitungen“ ohne Nennung des Verfassers der Vorlage als rechtlich und moralisch bedenklich erscheinen. Sie haben jedoch eine lange Tradition. Die bekanntesten Beispiele sind die Bearbeitungen, die Johann Sebastian Bach von Werken von Palestrina, Kuhnau, Vivaldi und anderen vorgenommen hat. Sie wurden damals nicht als Plagiate, sondern als Zeichen der Wertschätzung verstanden.10

 

 

Zur Situation des Sonatensatzes bei Wendling und Wagenseil gibt es im Flötenrepertoire des 19. Jahrhunderts eine Parallele, das Flötenquartett op. 88 von Anton Bernhard Fürstenau (1792–1852) nach einem Quartett von Sigismund von Neukomm (1778–1858).11 Auch hier wurden Erweiterungen und instrumentenspezifische Modifikationen ohne Nennung der Vorlage vorgenommen. Für Musiker späterer Jahrhunderte bieten diese überarbeiteten Fassungen einen aussagekräftigen Einblick in die stilistischen und satztechnischen Vorstellungen ihrer Verfasser.

 

In diesem Sinn ist es wohl legitim, in heutigen Aufführungen der Wagenseil-Sonate auch Elemente der Fassung Wendlings einzubeziehen. So könnten z. B. in den Takten 15 und 43 Wagenseils Stimmknickungen rückgängig gemacht werden. Außerdem könnte der Beginn des zweiten Teils in der plausibleren Version Wendlings gespielt werden, ergänzt um den Spitzenton a 3.

 

 

 

 

Anmerkungen:

[1] Helga Scholz-Michelitsch: Das Orchester- und Kammermusikwerk von Georg Christoph Wagenseil. Thematischer Katalog; Wien 1972

[2] Georg Christoph Wagenseil: Sonate D-Dur für Flauto traverso und Basso continuo WV 513, Erstdruck, hrsg. von Rudolf Scholz, Wien, München 1972 (Doblinger, Diletto Musicale Nr. 536)

[3] Gabriele Busch-Salmen: Der italienische Gusto in Georg Christoph Wagenseils Sonate D-Dur für Flauto traverso und Basso continuo (WV 513); in: Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts, Heft 35, Musikszenen – Persönlichkeiten und Ensembles. Konferenzbericht der XV. Wissenschaftlichen Arbeitstagung Blankenburg/Harz, 19. bis 21. Juni 1987; Micha­el­stein/Blankenburg 1988, S. 7–12.

[4] Faksimile in: Late Eighteenth-Century Sonatas for Woodwinds / Continuo Sonatas for Woodwinds, Edited by Jane Adas, Introduction by Paul Goodwin; New York & London 1991 (Garland Publishing), S. 45–48.

[5] Abweichend von Scholz' Ausgabe könnte in Takt 62 die letzte Note des Basses auch his0 lauten.

[6] Bibliothèque Genève, Signatur Ib 4185 (6).

[7] Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen. Berlin 1752; Faksimile Kassel 31964, S. 49.

[8] Datierung nach Franz Vester: Flute Music of the 18th Century; Monteux 1985, S. 520.

[9] Bibliothèque Nationale Paris, Signatur K 811.

[10] In einem größeren Zusammenhang wird dies dargestellt von Silke Leopold (Hrsg.): Musikalische Metamorphosen. Formen und Geschichte der Bearbeitung; Kassel u. a. 1992.

[11] Peter Thalheimer: Anton Bernhard Fürstenaus Quartett für vier Flöten op. 88 – „composée par Sigismund Neukomm“; in: Tibia 1/1998, S. 23–27.

 

 

 

Georg Christoph Wagenseil (1715–1777) wurde in seiner Heimatstadt Wien von Georg Muffat, Johann Joachim Fux und Matteo Palotta als Cembalist, Organist und Komponist ausgebildet. Von 1741 an war er Hofkompositeur, Organist und Musiklehrer der Kaiserin Maria Theresia und ihrer Kinder. Sein Œuvre umfasst lateinische Kirchenmusik, italienische Opern, Sinfonien, Konzerte, Klavier- und Kammermusik. Durch Drucke, die in Wien, Nürnberg, Paris, London und Den Haag erschienen, wurden seine Werke international bekannt.

 

 

Johann Baptist Wendling (1723–1797) stammte aus einer elsässischen Musikerfamilie und stand von etwa 1746 bis 1752 als Flötist im Dienst des Herzogs Christian IV. von Zweibrücken. 1752/53 wurde er Flötenlehrer und Soloflötist des Kurfürsten Karl Theodor in Mannheim. Mehrere Konzertreisen führten ihn nach Paris, London, Wien und Prag. Einige Zeit stand Wendling in intensivem Kontakt mit Wolfgang Amadeus Mozart. Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) schrieb über den Flötisten Wendling: Er ist stolzer darauf, das Schöne und Rührende hervorzubringen, als das Schwere, Schnelle, Überraschende. […] Seine Compositionen sind ungemein gründlich, und passen der Natur seines Instrumentes genau an.

 

 

 

 

 

 

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