Durch den Vergleich der beiden Fassungen ist die anfangs erwogene Deutung, dass Wendlings Fassung eine gekürzte Version des Wagenseil-Satzes darstellt, sehr unwahrscheinlich geworden. Eher ist davon auszugehen, dass Wagenseil auf den Sonatensatz von Wendling zurückgriffen und diesen erweitert hat. Es ist nicht auszuschließen, dass ihm der Satz in einer anderen Fassung als der 1774 gedruckten vorlag. Durch die Erweiterung rückt der Satz stilistisch weiter vom galanten Stil der Barockzeit weg und nähert sich der Wiener Klassik an.
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Nach dem Vergleich der beiden Fassungen scheint es sinnvoll, auch andere Flötensonaten von Wagenseil und Wendling in die Betrachtung einzubeziehen.
Von Georg Christoph Wagenseil ist das Manuskript einer weiteren Flötensonate überliefert. Sie steht in G-Dur und wird von Helga Scholz-Michelitsch im Wagenseil-Werkverzeichnis unter WV 514 geführt. Det Kongelige Bibliotek in Kopenhagen bewahrt die Handschrift unter der Signatur Mus 6210.1630 auf. Die Sonate ist musikalisch schlicht und spieltechnisch weniger anspruchsvoll als der hier untersuchte Sonatensatz. Für einen Stilvergleich sind Wagenseils SEI SONATE a Flauto Solo E Baßo o Alto Viola 6, gedruckt 1775 in Paris, aussagekräftiger. In allen sechs Sonaten kommen keine höheren Töne als das e 3 vor. Wagenseil stimmt darin mit Johann Joachim Quantz überein, der 1752 geschrieben hat: Das dreygestrichene E ist eigentlich der höchste brauchbare Ton, welchen man zu allen Zeiten angeben kann.7 Die gleiche Beschränkung ist im zweiten und dritten Satz der Sonate WV 513 zu finden. Dagegen kommen im hier untersuchten Allegro auch f 3, fis 3 und g 3 vor – und dies, obwohl im gleichen Satz an anderen Stellen das fis 3 offensichtlich vermieden wird. Darüber hinaus sind Wagenseils Sonaten von 1775 – wie auch der zweite und dritte Satz der D-Dur-Sonate – spieltechnisch weniger anspruchsvoll als der erste Satz der Sonate.
Von Johann Baptist Wendling ist außer seinem Opus 4 von 1774 noch eine weitere Sammlung von sechs Flötensonaten mit Generalbass erhalten, gedruckt um 17608 in Paris als sein Opus 1.9 Gegenüber seinem Opus 4 verlangt Wendling im Opus 1 von der Flöte eine größere Beweglichkeit. Auch der Tonumfang ist größer und reicht über f 3, fis 3 und g 3 bis zum a 3. Die demonstrative Verwendung von fis 3 und g 3 erinnert an Mozarts Flötenkonzert G-Dur KV 313 (285c) von 1777 und das Konzert G-Dur op. 29 von Carl Stamitz, das um 1789 veröffentlicht wurde.
Vergleicht man die Bassstimmen der Sonatenzyklen Wagenseils und Wendlings, so wird deutlich, dass Wendling schlichtere Bässe bevorzugt, die nur selten imitatorisch mit der Flötenstimme in Verbindung treten. Wagenseil führt dagegen in vielen Sätzen den Bass dialogisch mit der Flötenstimme. Dies entspricht den Beobachtungen an dem D-Dur-Sonatensatz. Der große Tonumfang der Flötenstimme von Wendlings Sonaten op. 1 lässt vermuten, dass auch im D-Dur-Sonatensatz ursprünglich das a3 vorgesehen war, jedoch nachträglich eliminiert wurde.
Rudolf Scholz vermutete, dass die Wagenseil-Fassung um 1765 entstanden ist. Im Kontext der hier genannten Werke erscheint jedoch ein Zeitraum zwischen 1770 und 1775 als wahrscheinlicher.
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In der heutigen Zeit mögen solche „Bearbeitungen“ ohne Nennung des Verfassers der Vorlage als rechtlich und moralisch bedenklich erscheinen. Sie haben jedoch eine lange Tradition. Die bekanntesten Beispiele sind die Bearbeitungen, die Johann Sebastian Bach von Werken von Palestrina, Kuhnau, Vivaldi und anderen vorgenommen hat. Sie wurden damals nicht als Plagiate, sondern als Zeichen der Wertschätzung verstanden.10
Zur Situation des Sonatensatzes bei Wendling und Wagenseil gibt es im Flötenrepertoire des 19. Jahrhunderts eine Parallele, das Flötenquartett op. 88 von Anton Bernhard Fürstenau (1792–1852) nach einem Quartett von Sigismund von Neukomm (1778–1858).11 Auch hier wurden Erweiterungen und instrumentenspezifische Modifikationen ohne Nennung der Vorlage vorgenommen. Für Musiker späterer Jahrhunderte bieten diese überarbeiteten Fassungen einen aussagekräftigen Einblick in die stilistischen und satztechnischen Vorstellungen ihrer Verfasser.
In diesem Sinn ist es wohl legitim, in heutigen Aufführungen der Wagenseil-Sonate auch Elemente der Fassung Wendlings einzubeziehen. So könnten z. B. in den Takten 15 und 43 Wagenseils Stimmknickungen rückgängig gemacht werden. Außerdem könnte der Beginn des zweiten Teils in der plausibleren Version Wendlings gespielt werden, ergänzt um den Spitzenton a 3.