Die historischen Quellen bieten uns also bereits eine Vielzahl an praktischen Umsetzungsmöglichkeiten an. Die Tendenz ist:
In einem gemischten Ensemble spielt der Traverso eine der Mittelstimmen und klingt eine Oktave höher als notiert. Nimmt man sich Praetorius' Bedenken über zu Quinten gewordener Quarten in den Oberstimmen zu Herzen, liegt durchaus ein Arrangieren der Stimmen an der entsprechenden Stelle nahe.
Aus meiner Erfahrung tendieren Ensembleleiter und -leiterinnen dazu, Renaissancetraversen in der obersten Stimme zu besetzen, da die Flöte als Diskantinstrument gesehen wird. Spielt der Traverso den Sopran in seiner tiefen Oktave, also wie notiert, kippt die Balance im Ensemble so gut wie immer zum Nachteil der Oberstimme. Spielt die Flöte allerdings in der hohen Oktave, gibt es zwischen Alt und Sopran mehr als eine Oktave Abstand, was sich in manchen Fällen ungünstig auf die klangliche Ausgewogenheit des Ensembles auswirkt. Diese Variante kann auch funktionieren oder ist sogar unabdingbar, z. B. beim Spiel von (Diskant-)Diminutionen. Spielt der Traverso jedoch eine der mittleren Stimmen, entweder alleine oder als Verdopplung in der Oktave, fallen die vorher beschriebenen Probleme weg. Ich erinnere mich an eine Aufführung der La Pellegrina-Intermedien mit einem großen Renaissanceensemble. Für dieses Werk ist an vielen Stellen im Erstdruck zwar angegeben, welche Instrumente gespielt haben, aber nicht was sie gespielt haben. Nach zwei frustrierenden Probentagen, in denen ich die oberste Stimme der polyphonen Sätze entweder mit Violine oder Zink im unisono oder der Oktave gespielt habe, und niemand im Ensemble vom klanglichen Ergebnis überzeugt war, konnte ich dank der Aufgeschlossenheit des Dirigenten in die Mittelstimmen wechseln. Auf einen Schlag sind Balance- und Intonationsprobleme verschwunden – je nach Satz spielte ich nun den Altus, Tenor oder Quintus. Spielpraktisch jedoch ist es nötig, dafür einen entsprechenden Klang zu kultivieren, oder wie meine Lehrerin Anne Smith dazu zu mir sagte: „You really have to play as if you are a real tenor!“ Gleichzeitig erhielt der Ensembleklang mehr Transparenz und „perfecte Harmonia und Resonantz“, um es mit Praetorius' Worten auszudrücken.
Anmerkungen:
[1] An dieser Stelle möchte ich meiner früheren Studentin, der Flötistin Mara Winter, für zahlreiche Gespräche über das Thema während ihres weiterführenden Studiums von 2018–2020 danken. 2021 hat sie auf dem YouTube-Kanal ihres Ensembles Phaedrus ein Video zu der Fragestellung „Why does the Renaissance flute play everything one octave higher?“ veröffentlicht: https://www.youtube.com/watch?v=AmlxmLL4r_s
[2] Boaz Berney: The renaissance flute in mixed ensembles: Surviving Instruments, Pitches and Performance Practice, in: Early Music Vol. 34, No. 2, Oxford 2006, S. 205 ff.
[3] Michael Praetorius: Syntagma Musicum II – Syntagmatis Musici Michaelis Preatorii C., Tomus Secundus de Organographia, Wolfenbüttel 1619
[4] Syntagma Musicum II, S. 21
[5] Syntagma Musicum II, S. 22
[6] Marin Mersenne: Harmonie universelle, Paris 1636
[7] Harmonie universelle, Harmonicorum Instrumentarum Liber II, S. 242
[8] Harmonie universelle, Harmonicorum Instrumentarum Liber II, S. 244
[9] Ludovico Zacconi: Prattica di Musica, Venedig 1596
[10] Prattica di Musica, S. 218
[11] Prattica di Musica, S. 219
[12] Aurelio Virgiliano: Il Dolcimelo d’Aurelio Virgiliano dove si contengono variati, passaggi, e diminutioni cosi per voce, come per tutte sorte d’instrumenti musicali; con loro accordi, e modi de sonare, Manuskript um 1600
[13] Il Dolcimelo, Libro Terzo
[14] Il Docimelo, Libro Secondo
[15] Pierre Attaingnant: Vingt et sept chansons musicales a quatre parties ; Vingt et sept chansons musicales a quatre parties, desquelles les plus convenables a la fleuste dallemant sont signees en la table cy dessoubz escripte par a. et a la fleuste a neuf trous par b. et por deux, par a b., Paris 1533
[16] Pierre Attaingnant: Chansons musicales a quatre parties desquelles les plus convenables a la fleuste d'allemant sont signees en la table cy dessoubz escripte par a. et a la fleuste a neuf trous par b. et pour les deux fleustes sont signees par a b., Paris 1533.
[17] Siehe auch Nancy Hadden: From Swiss Flutes to Consorts: History, Music and Playing Techniques of the Transverse Flute in Switzerland, Germany and France ca. 1470-1640 (PhD), Leeds 2010
Nancy Hadden: The Renaissance Flute in the Seventeenth Century, in: From Renaissance to Baroque: Change in Instruments and instrumental Music in the Seventeenth Century, Aldershot 2005, S. 113 ff.
Philippe Allain-Dupré: Les « Chansons musicales » d'Attaingnant pour flûtes d’Alleman, 2008, www.allain-dupre.fr/chansons.pdf.
[18] Ausführlich diskutiert in Anne Smith: Die Renaissancequerflöte und ihre Musik, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis II, Basel 1978, S. 9 ff
[19] Anne Smith: A Newly Found Fingering Chart for the Renaissance Traverso, in: Glareana 54/2 (2005), Zürich 2005, S. 62 ff.
[20] Philibert Jambe de Fer: Epitome musical des tons, sons et accordz, es voix humaines, fleustes d'Alleman, fleustes à neuf trous, violes, & violons, Lyon 1556.
[21] Ellen Konowitz: The Master of the Female Half-Lengths Group, Eclecticism, and Novelty, in: Oud Holland, vol. 113, Nr. 1/2, Leiden 1999, S. 1 ff.
[22] Meister der weiblichen Halbfiguren: Drei musizierende Damen. RIdIM Record ID 4668, 4669, 4670 und 4672.
[23] H. Colin Slim: Paintings of lady concerts and the transmission of ’Jouissance vous donneray’, in: Painting Music in the Sixteenth Century – Essays in Iconography, Aldershot 2002, S. 51 ff.
[24] Nancy Hadden: From Swiss Flutes to Consorts: History, Music and Playing Techniques of the Transverse Flute in Switzerland, Germany and France ca. 1470-1640 (PhD), Leeds 2010.
[25] Drei musizierende Damen, RIdIM Record ID 4672.
[26] Jan Sadeler, nach Maarten de Vos: Magnificat – Die Jungfrau umringt von musizierenden Engeln, Antwerpen 1585.
[27] Reinhold Hammerstein: Imaginäres Gesamtkunstwerk. Die Niederländischen Bildmotetten des 16. Jahrhunderts, in: Reinhold Hammerstein: Schriften, Bd. 2, Tutzing 2000, S. 239 ff.
Weiterführende Literatur zum Thema: Thea Vignau-Wilberg: Niederländische Bildmotetten um 1600, Altenburg 2013.
[28] Die umfangreichste Sammlung zur Ikonographie der Renaissancetraverso wurde von Liane Ehlich und Albert Jan Becking erstellt und wird laufend erweitert: www.renaissanceflute.ch.
[29] Richard Robinson: “A perfect-full harmonie”: Pitch, tuning and instruments in the Elizabethan and Jacobean mixed consort, in: Early Music, May 2019, Oxford 2019, S. 199 ff.
[30] Richard Robinson fasst zusammen: “In sum, the evidence implies that the flute was conceived of as an instrument whose sounding pitch was an octave above other instruments, rather than as an instrument which actively transposed the written notes up an octave.” In: “A perfect-full harmonie”: Pitch, tuning and instruments in the Elizabethan and Jacobean mixed consort.
[31] Thomas Morley: The First Booke of Consort Lessons, made by divers exquisite Authors, for 6 Instruments to play together, the Treble Lute, the Pandora, the Cittern, the Base-Violl, the Flute & Treble Violl, London 1599.
[32] Syntagma Musicum III, S. 96.
[33] Syntagma Musicum III, S. 97 f.
[34] Syntagma Musicum III, S. 158.
[35] Syntagma Musicum III, S. 156 f.
[36] Syntagma Musicum III, S. 95.
[37] Boaz Berney: Musicalischer Seelen-Lust: The use of the traverso in German seventeenth century sacred concerti, in: Geschichte, Bauweise und Spieltechnik der Querflöte, Michaelstein 2008, S. 263 ff.
[38] Tobias Michael: Musicalischer Seelen-Lust Ander Theil, darinnen, gleichermassen, auszerlesene vnd aus H. Göttlicher Schrifft gezogene Glaubens-Seufftzerlein, hertzliche Andacht vnd Frewde, etc.; In mancherley Art, mit 1.2.3.4.5.6. vnd mehr Stimmen, abgewechselten Instrumenten, Symphonien vnd Capellen gesetzete, doch nur in fünff Voces vnd ihrem Bass. contin. eingetheilete Concert zu befinden, Leipzig 1637.
[39] Tobias Michael: Musicalischer Seelen-Lust Ander Theil, Leipzig 1637.
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