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Variazioni senza tema Exemplarische Betrachtungen an Flötensonaten von Francesco Barsanti, Georg Philipp Telemann, Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach Fachartikel

 

BWV 1035, Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

 

 

Einleitung

 

Eine der zentralen Herausforderungen im Lesen historischer Notationen besteht darin, das jeweilige Stadium einer vorliegenden Niederschrift zu definieren in der großen Spanne zwischen einer nur grundlegenden Skizze auf der einen und einer völlig ausgestalteten finalen Vortragsfassung auf der anderen Seite. Diese Positionsbestimmung ist aber unverzichtbar zum eigenen Umgang mit dem Notentext bzw. der Frage, wie hoch und wie geartet ein interpretatorischer Eigenanteil bei der Ausgestaltung des Textes gegebenenfalls sein sollte.

 

Dies betrifft vor allem solistisches Repertoire mit potenziell hohem Maß an improvisatorischen und individuell gestalterischen Anteilen.

 

Dieser Beitrag ist quasi die Fortschreibung eines früheren, ebenfalls in Tibia erschienen Fachartikels, in dem es vor allem um die Rolle der „Manieren“ in barocken und klassischen Kompositionen ging.1 Zentraler Gedanke dieser Ausführungen war die Vorstellung einer Schaufensterpuppe, die je nach wandelbarem stilistischem Geschmack sehr verschieden dekoriert werden kann.

 

Die Methode der Betrachtung bestand im Wesentlichen darin, weitgehend endgültig ausgestaltete Niederschriften, wie wir sie ja vor allem im Werk J. S. Bachs häufig vorfinden, zu „entkleiden“, um ihre zugrundeliegende kompositorische Idee, nämlich die klischeehafte „Puppe“ sichtbar und verständlich zu machen.

 

Ohne alle Aspekte der Untersuchungen hier wiederholen zu wollen, mag es dennoch sinnvoll sein, sie an einem charakteristischen Beispiel hier noch einmal in Erinnerung zu rufen.

 

Da es im Folgenden noch ausführlicher um dasselbe Werk gehen wird, sei hier der erste Satz aus Bachs Flötensonate in E-Dur BWV 1035 angeführt in einer Synopse der überlieferten Partitur Bachs und hypothetischen ent-„manierierten“ Versionen von Melodie- und Bassstimme.

 

(Die einzelnen Notenbeispiele lassen sich vergrößert anzeigen, wenn man mit dem Mauszeiger darauf klickt.)

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Bsp. 1: J. S. Bach: Sonate E-Dur BWV 1035, 1. Satz

 

 

Aus diesem Beispiel erhellt vor allem zweierlei:

1) der kompositorische „Rohbau“ entspricht den im Hochbarock allgemein üblichen „Versatzstücken“ und „Klischees“ hochbarock-galanter Musik, wie sie R. O. Gjerdingen in seinem Buch Music in the galant style so treffend beschrieben und mit einprägsamen Namen belegt hat:

der „Meyer“ zu Beginn mit anschließendem „Prinner“, die charakteristischen Kadenzmodelle, der „Fonte“, der „Monte“ etc., etc.

 

2) Die ausnotierten willkürlichem Manieren entsprechen in ihrer Formelhaftigkeit und quasi-motivischen Verwendung in hohem Maße den von Johann Joachim Quantz in seiner Flötenschule beschriebenen und in einem „Muster-Adagio“ im musikalischen Zusammenhang demonstrierten Verwendung.

 

All dies deutet darauf hin, dass J. S. Bach sich dem galanten Geschmack des Berliner Hofes und des Königs, soweit es ihm ohne Verbiegungen möglich war, hat nähern wollen, wobei wir trotz der ungesicherten Überlieferung der E-Dur Sonate einmal davon ausgehen, dass tatsächlich J. S. Bach der Komponist dieses Werks war und dass er es anlässlich eines Besuchs 1741 bei seinem Sohn Carl Philipp Emanuel in Potsdam dem Kammerherrn Michael Gabriel Fredersdorff, der ebenso wie sein König Flöte spielte, überreicht hat – sicher in der Absicht, den Hof ihm gegenüber günstig zu stimmen.

 

Dieser Beitrag möchte den Ansatz der „Entkleidung“ fortschreiben in dem Sinne, dass zahlreiche Sätze in der Epoche nicht nur durch die Hinzufügung von wesentlichen und willkürlichen Manieren ausgestaltet sind, sondern in Gänze dem Prinzip einer Variation (oder terminologisch besser: eines „Doubles“) entsprechen, ohne dass das diesem Double zugrunde liegende Thema jemals erklungen wäre.

 

 

Francesco Barsanti

 

Um sich dem Sachverhalt schrittweise zu nähern, betrachten wir zunächst (wie auch im Beitrag über die „Manieren“) ein Beispiel aus den Blockflötensonaten Francesco Barsantis – in diesem Falle seiner F-Dur-Sonate für Blockflöte.

 

Wir kennen nur recht wenige Beispiele für Variationenfolgen, in denen die schrittweise Entwicklung von Veränderungen derart methodisch vorgeführt wird – vor allem deshalb, weil das Thema, ein äußerst simples Menuett, wirklich fast nur in seiner „bis auf die Knochen“ entkleideten Grundsubstanz präsentiert wird. Somit erleben wir anschaulich dessen Metamorphose in verschiedene, fortschreitend virtuosere „Doublierungen“: nach einer Rubato-Version (auch Quantz zeigt in Tab. X, Fig.4e ein Beispiel für diese Art von „Veränderung“) durch Einführung größerer Intervalle und zunehmend schnellerer Figuren. Festzuhalten ist für die weitere Betrachtung, dass die eingeführten Spielfiguren kontinuierlich während der gesamten jeweiligen Variation durchgeführt werden und ihnen damit ihr charakteristisches Gesicht geben.

 

Man könnte bemerken, dass hier zwei bei anderen Gelegenheiten häufig angewandte Variationsmuster fehlen: das durchgehender Triolisierung und das der Minore-Variante.

 

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Bsp. 2: Francesco Barsanti: Sonate V F-Dur, Minuet 

 

Statistisch gesehen sind es weit in der Überzahl Menuette, die im 18. Jahrhundert als Schlusssätze für Doubles genutzt wurden.

 

 

Georg Philipp Telemann

 

Apropos Triolen-Double: hier zunächst der Schlusssatz von Telemanns d-Moll-Blockflötensonate aus den Essercizii Musici:

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Bsp. 3: G. Ph. Telemann: Blockflötensonate d-Moll

 

Der Satz gilt landläufig als italienische Gigue mit durchlaufenden Triolenfiguren.

 

Gegen eine solche Deutung spricht jedoch der Bass: es ist ganz eindeutig kein typischer Gigue-Bass, sondern in seiner periodischen Struktur der eines Menuetts.

Irreführend ist die Wahl eines 9/8-Metrums; eigentlich handelt es sich aber um einen 3/4-Takt mit Triolen.

 

Die Oberstimme stellt also quasi das Triolen-Double eines zugrunde liegenden Menuetts dar, wobei weder das Thema noch mögliche umgebende Variationen wie bei Barsanti je erklingen. (Nimmt man das einfach zu ermittelnde Gerüst zum Ausgangspunkt, ließen sich solche jedoch unschwer selbst erstellen.)

 

Diese Technik finden wir bei Telemann häufig: bleiben wir bei Blockflötenwerken, wären noch die Schlusssätze der Sonaten 41: C1 und 41: C2 oder 41: f2 zu nennen, die jeweils andere Stadien einer hypothetischen Variationsreihe repräsentieren: seien es in C2 die geradezu grotesken Intervallsprünge, in C1 die Ausgestaltung zu einer virtuosen Solostimme mit Sprüngen, Tonleitern und Trillerfiguren oder in f2 die Durchführung einer erregten rhythmischen Figur aus zwei 32teln und einer 16tel. Wie gesagt, wären in allen genannten Fällen auch mühelos völlig andere charakteristische Umgestaltungen des zu Grunde liegenden Menuetts denkbar.

 

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Bsp. 4: G. Ph. Telemann: Blockflötensonate C-Dur

 

 

Um zunächst bei Telemann und seinen typischen Blockflöten-Doubles zu bleiben, sei noch darauf hingewiesen, dass der Komponist in einigen Fällen den Sachverhalt völlig eindeutig darstellt, indem er das jeweilige Double zeitlich deckungsgleich zum Thema erklingen lässt wie in den Menuetten und der Polonoise der a-Moll-Suite mit Streichern TWV 55: a2.

 

 

Johann Sebastian Bach

 

Damit wären wir auch wieder bei J. S. Bach, denn genau dies praktiziert auch dieser in seiner Ouvertüren-Suite h-Moll BWV 1067 im Double seiner Polonoise, in der das Thema dann als Generalbass verwendet wird.

 

Wir bemerken einen charakteristischen Unterschied zwischen Bach und Telemanns Praktiken: Telemann gewinnt die Doubles konsequent aus den Themen, indem er sie als  Oberstimme eine Oktave darüber mit virtuosen Diminutionen belebt;   Bach hingegen fügt im Falle der h-Moll-Suite in der Flötenstimme melodietragende Intervalle über den thematischen Bass ein und erzielt damit eine unabhängigere Neugestaltung (vergleichbar etwa einer „alla bastarda“-Diminutionspraxis früherer Epochen).  

 

Ich muss gestehen, persönlich immer große Probleme mit dem Verständnis des Schlusssatzes von Bachs E-Dur-Sonate BWV 1035 gehabt zu haben: die Schreibweise der Flötenstimme entspricht so überhaupt nicht vertrauten Mustern anderer Melodiestimmen Bachs, zudem überraschen der merkwürdige Beginn mit dem „Auftakt zum Auftakt“ – die Bezeichnung Allegro assai, das scheinbar unmotivierte Basssolo gleich zu Beginn etc., etc.

 

Legt man die oben ausgeführte Untersuchung von Telemanns „Double“-Schlusssätzen auf Bachs Sonatensatz an, erhellen sich plötzlich die Strukturen:

(Es liegt in der Natur der Sache, dass aus einer Variation die Umrisse des ursprünglichen Themas nicht in ähnlich eindeutiger Form herauslesbar sind wie bei einer lediglich verzierten Stimme – insofern sind zuweilen auch andere melodische Wendungen als in meiner hypothetischen Version vorstellbar.)

 

Auch dieser Satz entpuppt sich aber auf jeden Fall als ein „Double“ eines nicht vorher präsentierten Themas: ebenfalls eines Menuetts, jedoch in der Form eines Passepieds, das bekanntermaßen mit einem Auftakt beginnt. Ein Passepied wird bekanntlich zumeist im 3/8-Takt notiert und weist ein schnelleres Tempo auf als das gattungsmäßig übergeordnete Menuett.

 

Wir kennen Beispiele, in denen Bach nach Fertigstellung einer Komposition die Taktart geändert hat: so z. B. im h-Moll-Präludium BWV 893 (von C nach C-Halbe), um eine etwas „schwerere“ Ausführung zu suggerieren. Um die Herkunft deutlich zu machen, setzt er dann Tempowörter hinzu (im WTK „Allegro“, in der E-Dur-Sonate offenbar das „assai“). Auch an anderer Stelle, in seiner 1. Orchestersuite C-Dur BWV 1066 schreibt Bach ja ein Passepied im 3/4-Takt: – und auch hier finden wir im Passepied II ähnlich wie in der h-Moll-Suite ein Double der Oboen über gleichzeitig erklingendem unverändertem Thema in den Streichern.

 

Eine Synopse mit einer hypothetischen thematischen Version der Oberstimme lässt ihre Herkunft aus einem typischen Bachschen Passepiedthema deutlich werden – und erklärt auch den (ebenfalls stark diminuierten) Nachsatz des Themas im Bass.

 

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Bsp. 5: J. S. Bach: Flötensonate E-DUR, 4. Satz

 

Zum Vergleich eine „echte“ Passepied-Arie Bachs aus BWV 213, die wir zumeist in parodierter Form aus dem Weihnachts-Oratorium im Ohr haben:

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Bsp. 6: J. S. Bach: „Ich will dich nicht hören“ aus BWV 213 

 

Weiterhin irritierend in der Flötensonate bleibt dennoch die ungewöhnliche rhythmische und melodische Ausgestaltung der Oberstimme, denn J. S. Bachs Variationssätze und Doubles weisen in der Regel kontinuierliche Verläufe auf, wovon bei dem vorliegenden Allegro assai mit seinen „Stops and Gos“, seinen quasi unvermittelten Vorhalten und Bindungen oder seinen Hoquetus-artigen Pausen nicht die Rede sein kann.

 

Wie immer heißt es dann, für eine Erklärung möglicherweise vergleichbare Erscheinungen an anderer Stelle ausfindig zu machen.

 

Wie schon in den Betrachtungen zum ersten Satz der Sonate, scheint der Bezug zum Berliner Hof und dem dort präferierten Stil auch hier eine Spur zu weisen.

 

 

Carl Philipp Emanuel Bach

 

Wir finden nämlich genau diesen Stil der „Doublierung“ in einigen Fällen (übrigens auch Flötensonaten!) vom Sohn C. P. E.

 

Hier zwei Beispiele: die Variations-Schlusssätze der Sonaten a-Moll und e-Moll, einem Menuett und einem Thema im 2/4-Takt.

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Bsp. 7: C. P. E. Bach: Sonate e-Moll

 

 

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Bsp. 8: C. P. E. Bach: Sonate a-Moll

 

Sehr schön ist in diesem Variations-Set zu sehen, dass es offenbar unüblich war, zu Beginn das Thema in einer ähnlich „nackten“ Form zu präsentieren wie Barsanti in seiner F-Dur-Sonate. Das Thema ist also bereits die 1. Variation. (Ähnlich ja auch J. S. Bachs Goldbergvariationen)

 

In meiner Synopse habe ich deshalb im obersten System eine hypothetische Themenversion erstellt, gegen die sich die Veränderungen der darunter gedruckten Variationen abheben.

 

Das Prinzip der Diskontinuität, der „Verzerrung“ und Partikularisierung einer ursprünglichen Melodie mit plötzlichen Vorhaltsbildungen (oft auf unbetonten Zeiten), stockenden Pausen, plötzlich kumulierten „hastigen“ Bewegungen mit grotesken Sprüngen, Vertauschung der Richtungen und Pole hoch und tief, scheint hier zum Prinzip erhoben zu sein.

 

Und genau diese Technik übernimmt der Vater für den Schlusssatz der E-Dur-Sonate!

 

Sollte da der Vater wie im ersten Satz in Richtung Quantz (aber: dessen „Versuch“ war noch lange nicht erschienen!) mal auf den Stil seines Sohnes geschaut haben, um am Berliner Hof zu réussieren?

 

Beim nächsten Besuch im Jahr 1747 gab es ja dann den Auslöser für die Komposition des „Musikalischen Opfers“: und auch die c-Moll-Triosonate daraus vereint ja typisch berlinerische Geschmacksingredienzien mit extrem hohem technischem Anspruch für den Flötisten: sicher beides Verbeugungen gegenüber dem König.

 

 

Folgerungen für die Aufführungspraxis

 

Zurück zur am Beginn dieses Beitrags gestellten Frage, wie geartet ein interpretatorischer Eigenanteil bei der Ausgestaltung eines vorhandenen Notentextes ggfs. sein könnte oder sollte:

 

Fragen erheben sich bezüglich der Konsequenzen aus diesen Untersuchungen u. a. für das Tempo der jeweiligen angesprochenen Sätze.

 

Im Falle der Telemannschen Beispiele scheint sich der Sachverhalt recht einfach:

 

Nehmen wir das von Quantz für ein Menuett genannte Tempo von Halbe = 80 MM zum Ausgangspunkt, (also pro ganzem Takt etwas langsamer als eine Sekunde), ergibt sich für die  Sechzehntel der Solostimme ein Tempo von Viertel = 160 MM. Damit entspricht dieses Tempo Quantz´ Kategorisierung  für ein Presto. Dies könnte der virtuosen Anlage sowohl der C-Dur-Sonate als auch der a-Moll-Suite in etwa angemessen sein.

 

Im Falle Bachs müssen wir der Beobachtung Rechnung tragen, dass dieser sich in vielen Fällen von den gängigen (und zum Tanzen bestimmten) Tempi der Typen löst. Durch vielfältige satztechnische und ornamentierende Ausgestaltung werden seine „Tänze“ und seine tanzbasierten Vokalkompositionen meist zu stilisierten Gebilden, in denen die metrische und affektive Idee des zugrundeliegenden Typus  mitschwingt, aber eine Anwendung der Tempi, wie sie uns vor allem durch die französischen Pendelangaben überliefert sind, völlig jenseits einer sinnvollen Umsetzung liegen.  (Man denke als extremes Beispiel etwa an die Sarabande der e-Moll-Partita aus der Klavierübung angesichts eines Tanz-Tempos nach den Quellen von Viertel ca. 72 MM).  Das oben zitierte 3/8-Passepied-Thema von Ich will dich nicht hören aus Herkules am Scheidewege mit der Angabe „staccato“ dürfte in der Version als Bereite dich Zion  im Weihnachtsoratorium  trotz identischer thematischer DNA ebenfalls ein anderes, ruhigeres  Tempo erfordern, wie es  dem veränderten Affekt und der veränderten Instrumentierung angemessen ist.

 

Das heißt: wollte man im Falle des Finalsatzes der E-Dur-Sonate ein  gegenüber einem Menuett schnelleres Passepied-Tempo für das hinter den Figuren der Flöte verborgene Skelett  ansetzen, ergäbe sich ein völlig unspielbares und angesichts der höchst differenzierten Textur dieses „Doubles“ auch für die Zuhörer unverständliches Tempo.

 

Wie weit diese Werte auseinanderklaffen, sei am Vergleich ungefährer Metronomzahlen demonstriert:  nach den französischen Quellen kann man für ein Passepied ein mittleres Tempo von ca. 85 MM pro Takt ermitteln (für ein Passepied Telemanns wie dem aus der a-Moll-Suite durchaus realistisch!) , für Ich will dich nicht hören wären durchaus noch ca. 69 MM angemessen.  Im Falle von Bereite dich Zion auf jeden Fall  spürbar langsamer bei ca. 60 MM – und in der E-Dur-Sonate wird man kaum eine sinnvolle Darstellung erzielen, die schneller als Ganze-Takte: ca. 40 MM misst.  

 

Das hier angewandte Verfahren der Bewusstmachung einer „hinter“ den gedruckten Noten befindlichen klischeehaften Grundidee, auf die bereits vom Komponisten ausnotiert eine zweite ornamentierende bzw. doublierend verändernde Ausgestaltungsebene gelegt wurde, mag hilfreich sein, beide Schichten zunächst erkennbar zu machen, um dann bei einer Ausführung diese zweite „Ebene“ den Zuhörern „schauspielerisch“ wie gleichsam spontan erfunden erleben zu lassen. Das heißt nichts weniger, als sie sich eigen zu machen und mit der eigenen gestalterischen Fantasie zu „beseelen“, was Agogik, Dynamik sowie Rubatoanteile beeinflusst, wie sie als genuine Charakteristika „echter“ Improvisationen gelten können.

 

Wieder einmal gilt die von Barthold Kuijken als Titel seines aufführungspraktischen Essays gewählte Erkenntnis: „The Notation is not the Music“

 

 

Anmerkungen:

[1] Michael Schneider: „Gute Noten für gute Manieren“ – Überlegungen zur Ornamentierungspraxis des Barock, in: TIBIA 3/2016, S. 162–171.

 

 

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