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Die ukrainische chromatische Blockflöte (Sopilka) Konstruktion von Dmytro Demintschuk: ein neues Phänomen an der Schnittstelle von ethnischer und professioneller Musikkultur Fachartikel

 

Gibt es in der zeitgenössischen Musikkultur Platz für neue Musikinstrumente?

Der Aufstieg einiger Instrumente mit volkstümlichem Ursprung zu künstlerischen Instrumenten ist ein Beweis dafür, dass es so ist.

Prof. Dr. hab. Marek Toporowski

 

Das als Motto verwendete Zitat aus dem Blog des Professors an der Musikhochschule in Kattowitz, des brillanten Musikers Marek Toporowski, war nicht nur die Inspiration für diesen Artikel, sondern bildet auch den Schlüssel zur Analyse der Prozesse, die mit der Entwicklung des professionellen Spiels auf der Sopilka im 20. Jahrhundert verbunden sind, vor allem aber ihres kulturwissenschaftlichen Aspekts.

 

Der Artikel ist einem neuen Phänomen in der ukrainischen Musik gewidmet – der professionellen Kunst des Spiels auf der chromatischen Sopilka. Ziel ist es, die wichtigsten Probleme zu analysieren, die mit der Entwicklung der Sopilka, ihrem Eintritt als Instrument mit volkstümlichem Ursprung in die Umgebung der Kunstmusik, sowie den Konsequenzen dieser Metamorphose für die zeitgenössische ukrainische Musikkultur verbunden sind.

 

Es ist natürlich, dass eine ganze Reihe von Fragen zum Wesen dieses Phänomens aufkommt: Was bedeutet der Begriff chromatische Blockflöte? Was ist die Genealogie des Instruments, ist es nicht nur eine Ableitung der westeuropäischen Blockflöte? Kann die Sopilka ein künstlerisches Medium werden, das in der Lage ist, eine ernsthafte kreative Persönlichkeit (Komponist, Interpret) zu zeigen? Wie ist dieses Instrument im Kontext der ukrainischen Musik und – wagen wir es zu sagen – sogar des breiteren europäischen Kulturspektrums zu betrachten? Und schließlich, nach der treffenden Formulierung von M. Toporowski, „gibt es in der zeitgenössischen Musikkultur Platz für neue Musikinstrumente“?

 

 

1. Sind eine Sopilka und eine ukrainische chromatische Blockflöte dasselbe?

 

Die Sopilka ist die verbreitete Bezeichnung für verschiedene Varianten traditioneller Flöten in der Ukraine, und dieser Name wurde auch auf die chromatische Sopilka übertragen, ein Konzertinstrument, das zur Familie der europäischen Längsflöten gehört und kein traditionelles Instrument im strengen Sinne ist. Ursprünglich in den Karpaten entstanden, diente die Sopilka jahrhundertelang Hirten und Volksmusikern als Instrument zum Spielen und Improvisieren, für Ritualmusik, wie Hochzeiten oder Beerdigungen (Abb. 1). Doch eine unerwartete Wendung der Geschichte führte zu Ereignissen, die das Schicksal des Instruments in ein Vorher und Nachher teilten. Die Vorgänger der chromatischen Blockflöte sind etwa 28 Varianten traditioneller Aerophone, die immer noch in den Bergen erklingen. Das moderne Instrument hat in nur dreißig Jahren die Entwicklungsstufen durchlaufen, die sich für die anderen Instrumente dieser Familie über mehrere Jahrhunderte erstreckten.

 

Unter dem Begriff ukrainische chromatische Blockflöte ist eine Längsflöte zu verstehen, die eine chromatische Griffweise ohne den Einsatz eines Klappensystems wie bei der Böhm-Flöte oder anderen Blasinstrumenten ermöglicht. Das heißt, durch das Heben jedes Fingers entsteht ein Halbton. Eine solche Blockflöte hat 10 Löcher, alle 10 Finger sind im Einsatz, und das Rohr hat eine zylindrische Innenbohrung (Abb. 2).

 

 

 

 

Abb. 1: traditionelle Sopilka (6 Löcher) von V. Kuzmych
../../fileadmin/user upload/Baumeister V.Kuzmych  1981  trad. Sopilka - hajda
Abb. 2: Sopran-Sopilka nach dem Modell von Dmytro Demintschuk, chromatisch, 10 Löcher.
../../fileadmin/user upload/Demintschuck sopran

 

 

2. Zur Geschichte der Verwandlung der traditionellen polyvarianten Flöte in ein Konzertinstrument.

 

Die Geschichte der Verwandlung der traditionellen Blockflöte in ein chromatisches Konzertinstrument, dessen Unterricht von der Musikschule bis zur Musikhochschule reicht, ist mit den Initiativen dreier Personen verbunden – Mykhailo Timofiiv, Dmytro Demintschuk und Myroslaw Kortschynskyj.

 

Die Idee, eine diatonische traditionelle Flöte in eine chromatische zu verwandeln, stammt von Mykhailo Timofiiv (geb. 1944), einem virtuosen Volksmusiker und Forscher der traditionellen karpatischen Musikkultur, der verschiedene Karpaten-Blasinstrumente spielt, dessen Lieblingsinstrument aber die Frilka in „a“ ist.1 Es war die Frilka mit ihrer Molltonleiter, die zum „Versuchslabor“ der Chromatisierung wurde, und 1964 erschien die erste chromatische Frilka, der nur die Griffe zur Erzeugung des Fis fehlten. Das Ziel dieses ehrgeizigen Unterfangens war der Wunsch, ein Instrument für das virtuose Spiel in allen Tonarten zu haben. Dmytro Demintschuk (1942–2010) − ein ukrainischer Musiker, Instrumentenbauer und Inhaber von mehreren Patenten, u. a. für die chromatischen Flöte – übernahm erfolgreich die Idee der chromatischen Griffweise auf traditionellen Blasinstrumenten. 1980 ließ er sein erstes chromatisches Instrument, die Längsflöte, patentieren, nach der er noch sieben weitere verschiedene traditionelle Instrumente entwarf und patentieren ließ. Laut den Worten des Instrumentenbauers wollte er erreichen, was vor ihm noch niemand geschafft hatte: „Eine chromatische Blockflöte, die in allen Tonarten leicht und meisterhaft gespielt werden konnte“.2

 

Zunächst war die Sopilka ein Objekt des Interesses für Instrumentenbauer, die von der Leidenschaft für Erfindungen, Durchbrüche und der Idee begeistert waren, etwas völlig Neues zu schaffen. Jedoch spielte Myroslaw Kortschynskyj – ein wahrer Ästhet auf diesem Instrument – eine entscheidende Rolle bei der Transformation der Sopilka vom ethnischen Umfeld in den Bereich der schriftlich festgehaltenen, kompositorischen und künstlerischen Musikliteratur.

 

Myroslaw Kortschynskyj (1941–2021), ein herausragender ukrainischer Komponist, hinterließ einen unvergesslichen Eindruck in der ukrainischen Kultur als Gründer der professionellen akademischen Schule für das Spielen auf der chromatischen Sopilka. Seine innovativen Tätigkeiten brachten die Ästhetik des europäischen Instrumentalklangs in das ukrainische musikalische Erbe ein und schufen einen neuen, edlen Klang für die ukrainische Längsflöte. Die Sopilka als nationale ukrainische Idee und Symbol stieß auf erheblichen Widerstand des sowjetischen Regimes, das Menschen, die nationale kulturelle Werte propagierten, stark unterdrückte. Kortschynskyj, der trotz zahlreicher Repressionen nicht aufgab, arbeitete weiterhin entschlossen an seiner Idee. Die Eröffnung der ersten spezialisierten Sopilka-Klasse an der Lemberger Nationalen M. Lyssenko-Musikhochschule in der Ukraine war der Höhepunkt seiner Bemühungen (1990). Seine künstlerische Leistung und Innovation veränderten für immer die Wahrnehmung der Sopilka und verwandelten sie von einem traditionellen Hirteninstrument zu einem eleganten Konzertinstrument, das die Weltmusikkultur bereichert.

 

Solche Ideen waren jedoch nicht einzigartig, sondern eher symptomatisch für die Musikkultur der Ukraine und einiger anderer Republiken der ehemaligen UdSSR im 20. Jahrhundert. Das Verständnis des Phänomens der Akademisierung ukrainischer Instrumente traditionellen Ursprungs erfordert die Darstellung eines etwas breiteren historischen Kontextes.

 

Die Kultur der Kiewer Rus (historische Ukraine, 9.–13. Jahrhundert) war das Ergebnis sowohl innerer Prozesse als auch solcher, die von außen inspiriert wurden. Während sie sich aufgrund lokaler Einflüsse entwickelte, nahm sie gleichzeitig die reichen Errungenschaften des byzantinischen Reiches und über dessen Vermittlung auch die Früchte des europäischen Erbes sowie der östlichen Kultur auf. Ihr eigenes, unverwechselbares musikalisches Gesicht fand seinen Ausdruck vor allem in der Vokalmusik und der Schaffung einer originären kirchlichen Tradition. Hier sei an das Verbot der Verwendung jeglicher Musikinstrumente in der Kirche sowie das orthodoxe Dogma, das die Lobpreisung Gottes ausschließlich durch die menschliche Stimme vorschreibt, erinnert.

 

Vielleicht liegt gerade darin einer der Gründe, warum der instrumentale Teil der ukrainischen Musikkultur (das betrifft nicht die traditionelle Volksmusikkultur, reich an autochtonem Instrumentarium und eigenen Gattungen), sowohl im Sinne des Instrumentariums als auch der Kompositionsgattungen, vollständig fremdländische Errungenschaften übernommen hat (haupsächlich aus Westeuropa). Und obwohl die Rolle von Musikinstrumenten, insbesondere Flöten, im Laufe der Zeit und infolge der Änderung der Haltung der orthodoxen Kirche zu diesem Thema bedeutender wird, dominiert weiterhin die Tendenz zur Übernahme.

 

Es sollte daher nicht überraschen, dass die Sopilka, obwohl ursprünglich ein Hirteninstrument, im Laufe der Jahrhunderte nicht in den städtischen Musiktraditionen Fuß fassen konnte und unter den zunehmend bedeutenden Fremdeinflüssen an Bedeutung verlor – zunächst durch den Einfluss des byzantinischen Kulturkreises und später auch durch andere europäische Kulturen. Dies mag paradox erscheinen, aber gerade die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrem dynamischen politischen, sozialen und kulturellen Leben bot eine historische Chance für die Wiederbelebung und Entwicklung vieler Bereiche der ukrainischen Kultur, einschließlich der Musikinstrumente.

 

Versuche der Akademisierung volkstümlicher Musikinstrumente werden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verzeichnet. Diese wurden von Musikern aus Charkiw unternommen: H. Chotkewycz (Bandura) und W. Komarenko (Domra) sowie M. Helis aus Kiew (Mandoline, Bajan, Gitarre, Konzertina). In den 1930er Jahren begannen die ersten Rekonstruktionen von Instrumenten zur Vereinheitlichung ihrer Stimmung.

 

Die Idee, verschiedene volkstümliche Flöten zu einem einzigen Standardinstrument zu synthetisieren, entstand aus einem natürlichen Bedürfnis und fiel auf einen günstigen kulturellen Boden (wenn auch nicht ohne Diskussionen) zur Zeit der Entstehung der ersten Orchester ukrainischer Volksinstrumente.

 

Als erster formulierte und veröffentlichte diese Idee der ukrainische Musikinstrumentenbauer Iwan Sklar (1906–1970). Ein Zitat aus seinem ersten Lehrbuch Geschenk für Sopilka-Spieler (1968) kann als Credo der gesamten zukünftigen Tätigkeit der Enthusiasten dieses Instruments betrachtet werden: „Das Ziel dieses Buches besteht darin, den Standard und die Identität der Griffweise zu verbreiten, die Aufführungsmöglichkeiten der Sopilka-Gruppe in Volksorchestern zu erweitern, die Grundlage zu schaffen, auf der eine Schule für das Sopilka-Spiel entstehen sollte, aber das wichtigste Ziel ist die Ausbildung von Ausführenden […] auf diesem wunderbaren Volksinstrument.“

 

Iwan Sklars Absichten wurden innerhalb der nächsten zwei Jahre verwirklicht: 1970 erfand der schon erwähnte Dmytro Demintschuk die chromatische Sopilka, also ein Holzblasinstrument mit zehn Löchern, das als chromatische Längsflöte patentiert wurde (1980).3 Seine Konstruktion ist einzigartig: unter den klappenlosen Flöteninstrumenten ist die Demintschuk-Sopilka bis heute der einzige chromatische Typ (das stufenweise Öffnen der nächsten Öffnung ermöglicht die Erzeugung einer chromatischen Skala, s. Abb. 3). Zu den besonderen Merkmalen, die sie von der europäischen Blockflöte unterscheiden, gehören die intuitive Griffweise, die umfangreicheren Klangmöglichkeiten, der voluminöse, wärmere Ton und die breitere dynamische Skala. Derzeit hat diese Konstruktion noch lange nicht ihre Möglichkeiten erschöpft und kann weiterhin ein Feld für Experimente sein.

 

Abb. 3: Grifftabelle für eine moderne Sopilka in F von D. Demintschuk
../../fileadmin/user upload/Sopilka Griftabelle

 

Die Analyse der Rolle und Stellung der chromatischen Sopilka im Kontext der zeitgenössischen ukrainischen Musik erfordert zwangsläufig die Suche nach ähnlichen Instrumenten in anderen Nationalkulturen. Wie bekannt ist, sind solche Instrumente in den Ländern Westeuropas weit verbreitet. Dazu gehören vor allem die Blockflöte, sowie das am Ende des 20. Jahrhunderts wiederbelebte Flageolett und der Csakan.

 

Welche Stellung hat also die Blockflöte in den Kulturen Mittel- und Osteuropas? Je nach lokaler Tradition und bis zu einem gewissen Grad auch durch die intensiven gegenseitigen Einflüsse der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts variiert ihre Verwendung in den einzelnen Ländern erheblich. Zum Beispiel wird die Blockflöte in Polen sowohl für musikalische Erziehung als auch als Solo- und Ensembleinstrument verwendet, und ihr Spiel wird in den Abteilungen für Alte Musik an Musikhochschulen gepflegt. In Tschechien dient sie sowohl als Konzertinstrument als auch als Mittel zur Behandlung der Atemwege in einigen Gesundheitseinrichtungen.

 

In der Ukraine hingegen haben weder die europäische Blockflöte noch der Csakan überhaupt Eingang in den allgemeinen Gebrauch gefunden. Aufgrund spezifischer kultureller Prozesse hat sich die Blockflöte am Rande des musikalischen Lebens gehalten. Heute sollte sie als Instrument in der Ukraine erforscht werden, das sich gleichzeitig mit den alten Kammermusikformen entwickelt hat und eines der wichtigsten Instrumente im Prozess der Rekonstruktion der musikalischen Praxis früherer Meister darstellt.

 

Ganz unabhängig von dem Weg, den die Blockflöte in Westeuropa in den 1920er Jahren durchlief (eine Zeit, die man als wahre Renaissance des Instruments bezeichnen kann), durchlief die Sopilka in der Ukraine, wenn auch etwas später, ähnliche Prozesse. Bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangte sie die Rolle eines Instruments im Musik- und Gesangsunterricht an allgemeinbildenden und Musikschulen. In den 1980er und 1990er Jahren initiierte Myroslaw Kortschynskyj die Institutionalisierung des Unterrichts auf diesem Instrument und eröffnete spezielle Sopilka-Klassen auf allen Ebenen der musikalischen Ausbildung: an der Lwiwer Musikschule Nr. 2 (1980), der Lwiwer S. Ludkewytsch Berufsmusikschule (1980) sowie an der M. Lyssenko Nationalen Hochschule für Musik in Lwiw (1990).

 

 

3. „Millenniumsphase“ der Entwicklung – das neue Modell der Sopilka von B. Kortschynska / J. Illarionow

 

Um das Problem der Instrumentenqualität zu lösen, machte sich die Autorin dieses Artikels auf die Suche nach Instrumentenbaumeistern, die an der Durchführung eines gemeinsamen Experiments interessiert waren, dessen Endziel ein Instrument ist, das den Anforderungen des professionellen Gebrauchs entsprechen sollte. Zu diesen Anforderungen gehören: hervorragende akustische Eigenschaften (Klangfülle, Volumen, Resonanz, Ausdruck und Charakter des Tons, identifiziert mit dem gesuchten Klangideal); Lautstärke des tiefen Registers und relative Gleichmäßigkeit aller Register; Intonationsstabilität der Töne, die Fähigkeit, in ihrem Höhenbereich auch bei starkem Luftdruck stabil zu bleiben; Erweiterung des Tonumfangs und perfekte technologische Ausführung der Holzarbeiten gemäß den in der europäischen Produktionstradition festgelegten Standards (Stufen der Holzverarbeitung für die notwendige Oberflächen-Glätte; Holzschutz zur Garantie seiner Haltbarkeit); äußere Ästhetik.

 

Im Jahr 2000 fand in Kiew ein Treffen mit dem europaweit bekannten Meister historischer Holzblasinstrumente, Jewgenij Illarionow statt. Nach einigen Zweifeln und Überlegungen stimmte er zu, ein gemeinsames Projekt-Experiment zu beginnen. Das erste Ziel war es, die Standardtechnologien und Mensuren nach dem Patent von Dmytro Demintschuk einzuhalten, um eine vergleichbare Qualität des Instruments zu erreichen. Im Verlauf des Experiments wurde der ursprüngliche Plan geändert. Tatsächlich begann Jewgenij Illarionow sofort, Anpassungen an der Mensur, der Methode der Innenbohrung, den Proportionen des Instruments sowie der Herstellung des Labiums vorzunehmen.

 

Die Demintschuk-Version ist dem ethnischen Typ nahe, mit abgerundetem und lang aufgeschnittenen Labium, was zu einem offenen, voluminösen, leicht zerstreuten Klang mit einer beträchtlichen Menge an Obertönen führt. Die Illarionow-Version greift demgegenüber auf ein breiteres und weniger lang aufgeschnittenens Labium mit einer klar definierten Labiumkante und einen gebogenene Windkanal zurück. Diese scheinbar geringfügigen geometrischen Veränderungen eines der wichtigsten Elemente des Kopfstücks verändern die Klangfarbe des Tones hin zu einem stabileren und definierteren Ton und somit auch das Spielerlebnis beim Anblasen.

 

 

Abb. 4: Sopilka neues Modell (Alt re.) nach B. Kortschynska / J. Illarionow
../../fileadmin/user upload/Abb. 3 moderne Alt-Sopilka

 

Im Jahr 2003 erschien die erste Sopilka des neuen Modells – Alt in f (Abb. 4). Die vorgenommenen instrumentenbaulichen Veränderungenan Windkanal, Labium und Innenbohrung führten zu einem stabileren Ton, einer geringeren Empfindlichkeit der Töne gegenüber dem Luftdruck, größerer Variabilität der Lautstärke und einem reichhaltigeren, obertonreicheren Klang, der traditionelle ethnische und individualisierte farbige Klangnuancen vereint. Ein besonderes Merkmal des Alt des neuen Modells ist der kräftige, dramatische Klang des tiefen Registers. Trotz des experimentellen Status kann das Instrument als erstes Beispiel der professionellen Klasse betrachtet werden.

 

 

 

4. Zum Repertoire

 

Es ist anzumerken, dass das Repertoire der Sopilka vor der Akademisierung sowohl durch die allgemeine Repertoire-Tendenz der 20er bis 60er Jahre als auch durch die Möglichkeiten des Instruments selbst bestimmt war. In der Regel handelt es sich um gesangliche und tänzerische Volksmelodien, die in Form von Potpourris und einfachen Variationen (selbst arrangiert von den Leitern und Ausführenden) bearbeitet wurden. Die Werke zeichnen sich durch einfache Form, wörtliche Zitation des ursprünglichen Materials und elementare Ausführungstechniken aus. Die meisten von ihnen sind nicht veröffentlicht.

 

Seit den 1970er Jahren, insbesondere im Zusammenhang mit der Eröffnung der experimentellen Sopilka-Klasse (erster Student – Roman Dwerij), wurde das originale Sopilka-Repertoire durch die Professionalisierung des Spiels und die Zusammenarbeit mit den zeitgenössischen ukrainischen Komponisten gefördert. Durch die enge Zusammenarbeit von M. Kortschynskyj und R. Dwerij mit Komponisten entstanden die ersten Solowerke für Sopilka, die sich durch einen innovativen Ansatz auszeichneten und die neuen Möglichkeiten des Sopilka-Spiels zeigten. Die meisten der aufgeführten Beispiele basieren auf folkloristischen Grundlagen und gehören zur innovativen Periode der Entwicklung des Sopilka-Spiels in den 70er bis 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, deren ästhetisch-stilistische Prinzipien noch stark an romantischen Einflüssen orientiert sind, mit einer Ausrichtung auf traditionelle Ursprünge, Genrevielfalt, Pastoralität und Emotionalität. Die künstlerische Bildhaftigkeit der Werke ist reich an archaischen Symbolen, Metaphern und Erzählungen, die überwiegend in kleinen Musikformen verkörpert sind, die ursprünglich für die Natur dieses Genres sind.

 

Während der ersten 30 Jahre der jungen professionellen Sopilkakunst wurden zahlreiche Werke geschaffen, von denen die meisten in der Sammlung Musik für Sopilka veröffentlicht worden sind.4 Der Repertoiremangel, der besonders seit Anfang der 1990er Jahre im Zusammenhang mit der Eröffnung der Sopilka-Klasse an der Musikhochschule in Lwiw spürbar wurde, war in erster Linie durch Musik für Blockflöte gefüllt worden, ein Instrument, das in Klangfarbe, Umfang und Ausdrucksmöglichkeiten verwandt ist. Zahlreiche im Ausland entstandene Ausgaben für dieses Instrument waren in den Bibliotheken der ehemaligen Sowjetunion nicht ausreichend vertreten, aber selbst die verfügbare Anzahl ermöglichte eine Auswahl.

 

Die Erweiterung des Repertoires erfolgte auch durch Transkriptionen und Arrangements von Werken für andere Instrumente. Einen wesentlichen Teil der Transkriptionen und musikalischen Bearbeitungen übernahm insbesondere M. Kortschynskyj, der das Repertoire für Sopilka mit Werken von Komponisten verschiedener Epochen erweiterte.5

 

Die ersten Jazz-Beispiele der Sopilka-Musik sind die Fusion-Stücke Dialog und Rosemarie von B. Kotiuk, deren Relevanz bis heute nicht verloren gegangen ist.6

 

Der Schaffung eines eigenen Repertoires für die Sopilka widmete sich vollständig M. Kortschynskyj. Als Autor, Herausgeber, Arrangeur und Verleger prägte er intensiv die Entwicklung des Repertoires. Sein Ansatz zur Schaffung des Repertoires zeichnet sich durch das Bestreben aus, sowohl das Solo- als auch das Ensemble-Spiel umfassend abzudecken. Besonders hervorzuheben ist seine Entdeckung einer selten genutzten Ensemble-Kombination von Blasinstrumenten und Stimme. Ein ganz originelles Genre der Sopilka-Musik wird durch die Etüde-Vocalise und den Etüde-Kanon von M. Kortschynskyj repräsentiert, die in der Technik des zweistimmigen polyphonen Satzes geschrieben sind.7 Ungewöhnlich an diesen Werken ist die gleichwertige Rolle des Gesangs des Ausführenden, der den Kontrapunkt gleichzeitig mit dem Spiel führt und einen komplexen polyphonen Dialog schafft (Abb. 5).8

 

 

Abb. 5: M. Kortschynskyj: Etüde-Vocalise
../../fileadmin/user upload/Verbessert Etude Vocalise

 

M. Kortschynskyj hat Stilisationen der Musik des 17. Jahrhunderts verfasst, die in den Werken Partsong Konzert, Partsong Suite (Abb. 6) und dem Irmos9 Alles, was atmet, preise den Herrn10 vertreten sind . Tatsächlich hat das Vorhandensein solcher Werke in der Sopilka-Literatur den Spielern den Zugang zur Musik der Vergangenheit eröffnet und sie in Kontakt mit künstlerischen Prozessen gebracht, von denen die Sopilka historisch weitgehend ausgeschlossen war.

 

Abb. 6: M. Kortschynskyj: Partsong Suite
../../fileadmin/user upload/Abb 6 Part Song

 

Das erste Werk für die Sopilka von einem ausländischen Komponisten war die Sonate für Sopilka, Kontrabass und Klavier O, fliegt der Falke von Marek Toporowski (Polen).11

 

Im Jahr 2022 wurde das Repertoire der Sopilka-Spieler mit Musik von Ernst Gottlieb Baron erweitert, als die CD E.G. Baron: Musik für Laute solo & Laute und Blockflöte von Brilliant Classics veröffentlicht wurde (aufgenommen von Bernhard Hofstötter und Bozhena Kortschynska).

 

 

5. Kulturwissenschaftliche Bemerkungen zur Rezeption des Sopilkaspiels

 

Von Anfang an blieb das professionelle Spielen auf der Sopilka ein lokal begrenztes Phänomen, selbst im ukrainischen Maßstab, und fand nur in relativ engen Fachkreisen in Galizien Anerkennung. Die Verbreitung und Verankerung neuer ästhetischer Standards in Bezug auf ihren Klang im weiteren gesellschaftlichen Bewusstsein erfolgt hingegen sehr langsam. Bis heute werden Auftritte von Sopilka-Ensembles und Solisten, selbst in der Heimat des Sopilka-Spiels, mit einer gewissen Verwunderung aufgenommen, als eher „exotische“ Kunst.

 

Ein entscheidender Faktor dabei ist eindeutig die Semantik des Begriffs „Sopilka“, der Assoziationen im Ukrainischen mit einem Hirten, oder Hochzeitsmusiker weckt. Eine Reihe von Veränderungen, die traditionelle Instrumente im 20. Jahrhundert durchliefen und die zu tiefgreifenden Transformationen führten, wird oft von den immer noch dominierenden archaischen, ethnischen Assoziationen aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt.

 

Die breite Popularität der Sopilka als Repräsentantin volkstümlicher Instrumentalmusikformen schränkt ihr kommunikatives Potenzial erheblich ein: Das Image des Instruments außerhalb der Ukraine bleibt unverändert; es wird als strikt „volkstümlich“ wahrgenommen. Die Bemühungen ihrer Adepten, die Qualität des Sopilka-Spiels auf das höchste professionelle Niveau zu heben, erfordern keineswegs eine Abkehr von ihren volkstümlichen Wurzeln (sie mindern in keiner Weise den einzigartigen Wert des Instruments). Jedoch ist die Tendenz, dieses Phänomen ausschließlich im Kontext der Volkskulturgeschichte zu sehen, ohne seine zeitgenössischen ästhetischen Werte zu berücksichtigen, höchstwahrscheinlich das Ergebnis eines nicht sehr tiefen Verständnisses des postmodernen Charakters dieses Prozesses.

 

Es muss jedoch anerkannt werden, dass einer der entscheidenden Faktoren, der die Entwicklung einer neuen Vision des Sopilka-Spiels beeinflusste, das Interesse an diesem neuen Aufführungsbereich außerhalb der Ukraine war. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einige Schlüsselerlebnisse in Erinnerung zu rufen.

 

Die erste Präsentation der chromatischen Sopilka als professionelles Instrument vor Fachpublikum fand im Jahr 2000 in Fulda statt. Das geschah dank des Komponisten und Autors von Blockflötenschulen, Richard Voss (verstorben 2017). Die Autorin dieses Artikels besuchte bei dieser Gelegenheit auch die Firma Mollenhauer, um Bernhard Mollenhauer und Nick Tarasov die von D. Demintschuk konstruierten Sopilka vorzuführen und die Möglichkeiten einer Produktion und experimentellen Weiterentwicklung von Sopilkas und deren Vertrieb in Deutschland und Polen zu diskutieren. Obwohl sich die Idee im Wirbel kreativer Pläne verlor, fand sie dennoch ein gewisses Echo in der Presse und führte dazu, dass die Suche nach einem an der experimentellen Sopilka-Produktion interessierten Instrumentenbaumeister in der Ukraine begann.

 

Die zweite Präsentation der chromatischen Sopilka (in ihrer modernisierten Version von Kortschynska/Illarionow) war ein Vortrag der Autorin über die Geschichte des Instruments, verbunden mit einem Konzert, das 2008 auf Initiative von Professor M. Toporowski an der Karol Szymanowski Musikhochschule in Kattowitz stattfand.

 

Im Rahmen der wachsenden internationalen Zusammenarbeit entstehen kreative Initiativen in Form vielfältiger Projekte: ukrainische Musik beim Festival Salesianer Sommer (Przemyśl, 2008), ein Barockprogramm beim Festival Alter Musik in Stary Sącz (2008), Konzerte mit der Sopilka bei den Salonabenden im Mendelssohn-Saal (Gewandhaus) in Leipzig (2009), ein Solokonzert und eine Sopilka-Präsentation im Konzertsaal der Kunstuniversität Graz (2010), das internationale Projekt Musik an den Höfen Europas (Warschau – Marijampole – Kaunas, 2008–2009), Konzerte in Tokio, Kyoto, Bayreuth, Skopje, Ochrid, Kopenhagen, Wien und andere.

 

Die Idee, dass die Sopilka ihren „exotischen“ Musikstatus überwindet und sich dem Kreis der Instrumente für Kammermusik als Konzertinstrument anschließen sollte, entspricht der Konzeption des herausragenden Blockflötisten, Komponisten und Professors an der Hochschule für Musik Karlsruhe, Karel van Steenhoven: „Die Blockflöte der Zukunft ist ein Instrument, das das Repertoire des vergangenen Jahrhunderts wiedergeben kann und die gleiche Stimmung wie alle anderen Blasinstrumente hat. Es ist ein Instrument, das den Bedürfnissen guter Interpreten entspricht und auf dem, wie auf jedem anderen Instrument, Musik aller Epochen gespielt werden kann. Wir wollen heute Vivaldi auf „Turbo“-Blockflöten in Sälen mit tausend Plätzen spielen“.12

 

Ob diese Ideen realisierbar sind, wird die Zukunft zeigen. Man kann jedoch feststellen, dass ein solcher Blick auf historische Instrumente (jedes Instrument ist auf seine Weise historisch) ein Zeichen für Offenheit gegenüber einem offenen, dogmenfreien Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, eine Aktualisierung „alter“ Musik durch neue Klänge (ist eine solche Neigung zu künstlerischen Experimenten nicht das Privileg der postmodernen Epoche?).

 

Abschließend möchte ich anmerken, dass die Zukunft des Sopilka-Spiels – ähnlich wie bei anderen ukrainischen künstlerischen Ausdrucksformen, die nicht ausreichend durch die staatliche Kulturpolitik unterstützt werden – maßgeblich von ihrer öffentlichen Wahrnehmung abhängt. Der Eintritt in den europäischen Musikkontext würde nicht nur die Möglichkeit bieten, neue Facetten der eigenen Identität zu entwickeln, sondern auch das Potenzial für internationale Zusammenarbeit erweitern.

 

Welche Zukunft erwartet also die neuen Instrumente in der zeitgenössischen Musikkultur: „sein oder nicht sein“? Welche Antwort auch immer gegeben wird, das professionelle Spiel auf der chromatischen Sopilka wird in der Musikgeschichte als ein tief nationales Phänomen bestehen bleiben, als originelle Frucht der ukrainischen Kultur im Kontext der allumfassenden und vereinheitlichenden Globalisierungsprozesse.

 

 

Anmerkungen:

[1] Die Frilka wird als eine an einem Ende offene Kerbflöte charakterisiert.

[2] Interview Quelle: B. Kortschynska-Yaskewytsch: Die Ursprünge und Entwicklung der professionellen Sopilkakultur im ukrainischen Raum des Instrumentalismus. Doktorarbeit PhD (Lwiw, 2017): archive.org/details/sucho-id-korchynska/aref_korchynska/

[3] Patentnummer № 711612 von 25.01.1980. Quelle: patents.su/3-711612-khromaticheskaya-prodolnaya-flejjta.html. Deutschsprachige digitalisierte Quelle: www.musiker-board.de/attachments/sopilka-patent-deminchuk-1980-depatisnet-komplett-pdf.433175/

[4] Musik für die Sopilka [Hrsg. R. J. Dwerij].  Kiew, 1980, Muzyczna Ukrajina, Ausg. 1.

Musik für die Sopilka [Hrsg. R. J. Dwerij]. Kiew: Muzyczna Ukrajina, 1985, Ausg. 2.

Musik für die Sopilka [Hrsg. R. J. Dwerij].  Kiew: Muzyczna Ukrajina, 1989, Ausg. 3 – Ensembles. Link zum Herunterladen: sopilka.ucoz.ua/load/

[5] Quelle zum Anhören:
www.youtube.com/watch

[6] Quelle zum Anhören: youtu.be/D8gJkCkqjP4

[7]  „Burt“ (укр. „берт") gehört zu den traditionellen Techniken ukrainischer Musik, bei der der Musiker gleichzeitig Töne auf dem Blasinstrument erzeugt und singt.  M. Kortschynskyj hat diese Technik erweitert, indem er die Gesangslinie zu einer vollwertigen, melodisch und rhythmisch entwickelten Partie machte.

[8] Quelle zum Anhören:
www.youtube.com/watch

[9] Irmos ist in byzantinischen Hymnen die erste poetische Strophe eines Kanonliedes, ein einleitender Vers, der eine sinnliche Verbindung zwischen dem biblischen Lied und den Troparien herstellt.

[10] Quelle zum Anhören:
www.youtube.com/watch

[11] Quelle zum Anhören:
www.youtube.com/watch

[12] K. van Steenhoven: Historische Aufführungspraxis und „aktuelle Blockflöte“, in: Windkanal Februar, 2009,  S. 14–18.

 

 

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Bozhena Kortschynska ,

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