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Helmut Winschermann zum 100. Geburtstag Berichte

 

 

Am 22. März dieses Jahres wird der nicht nur in Musikerkreisen hochgeschätzte Oboist, Orchestermusiker, Hochschullehrer, Ensemblegründer, Dirigent, Editor (es fehlen sicherlich noch einige Tätigkeitsbereiche!) diese selten erreichte hohe Lebenszahl begehen. An diesem Tag kann der Jubilar versichert sein, dass viele Menschen rund um den Globus seiner gedenken werden. Denn durch die unzähligen Konzertreisen in so viele Länder nach Ost und West, die nicht zu zählenden Einspielungen auf Schallplatte oder CD, die Rundfunkaufnahmen und –sendungen, seine große Anzahl bedeutender Schüler, die seinen Ruhm weitertragen, und letztlich auch durch die Editionen bedeutsamer Musikliteratur ist sein Name in der Musikwelt allerorten präsent. Gerade auch diese Herausgebertätigkeit vom Oratorium (Telemanns Passionsoratorium nach Brockes) über die barocke klein besetzte Ensemblemusik, zahlreiche Konzerte bis zu den Orchesterwerken (insgesamt weit über 100 Werke, sämtlich erschienen im Sikorski Verlag) – eine Tätigkeit, die sich Winschermann vor allem für die nicht mehr aktive Zeit vornahm, wie er in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag darlegte (Tibia 1/1990, S. 40) –, wird viele Musiker an den großen Namen des Jubilars erinnern.

 

Im gleichen Interview kann man erfahren – und das scheint mir eine veritable Parallelität zu der Hinwendung zur Barockoboe in der Mitte der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts –, dass er die frühen Ausgaben von all seinen persönlichen Bearbeitungen reinigen möchte, um so dem ursprünglichen Text gerecht zu werden. Denn er hatte sicherlich durch sein Spiel auf der barocken Oboe kennenlernen können, dass die Verwendung eines Instruments, mit dem die barocke Musik z. B. ausgeführt wurde, der Darstellung des Werks gemäßer als ein modernes ist. Er beschreibt es folgendermaßen: „Wir hatten wunderbare Erlebnisse, und wenn ich nur an die Bach-Kantate Weichet nur, betrübte Schatten [BWV 202, Anm. d. Verf.] denke, so schwierig die schnelle Arie Sich üben im Leben für mich war, so herrlich war die erste Arie [Adagio, Weichet nur ..., Anm. d. Verf.], in der man so wunderbar zaubern kann auf der Barockoboe, wie es auf dem modernen Instrument nie möglich ist. Das wird mir jeder bestätigen, der die alte Oboe bläst. Die moderne Oboe klingt vergleichsweise aggressiv und auch irgendwie simpel. ... Ihr Charme [der barocken Oboe, Anm. d. Verf.] liegt meiner Meinung nach in den Möglichkeiten klanglicher Modulation, durch die Gabelgriffe etwa, Möglichkeiten, die dem alten Instrument eigen sind“ (Tibia 1/1990, S. 39). So wie das Spiel auf der der Komposition zeitgemäßen Oboe der Komposition zupassender ist – so hat wohl Winschermann erkannt –, kann das auch nur der von allen späteren Eingriffen befreite sog. „Urtext“ einer Komposition in Wahrheit leisten, auch wenn dieser in zahlreichen Fällen nicht immer im Autograph des Komponisten vorliegt.

 

Dieses Verständnis mag dem Jubilar natürlich durch sein jahrelanges Mitwirken in der Cappella Coloniensis erwachsen sein, in der er seit ihrer Gründung 1954 beim damaligen noch NWDR Rundfunksender von Anfang an zum Stammpersonal auf der Barockoboe gehörte1. War Winschermanns Ansehen als Oboist und Hochschullehrer zur Zeit des Beitritts zur Cappella Coloniensis – übrigens: zur Namensfindung des Orchesters hatte der Gründer des Bärenreiter Verlags Karl Vötterle wesentlich beigetragen – bereits gefestigt, so scheint er dieses in recht kurzer Zeit auf der Barockoboe gleichfalls erreicht zu haben, wie ein humoriges Vorkommnis während einer Probe zu Telemanns Ouvertüre für 3 Oboen, Streicher und Basso continuo TWV 55:C6 – notabene eine Edition Helmut Winschermanns! – noch heute in Musikerkreisen kursiert. Bevor die in doppelter Besetzung angetretene Oboen-Riege zur abschließenden Gigue erklang, stimmte sie, ihrem schönen und eingängigen Thema angepasst, in die Stille der Konzentration einmütig lauthals an: „Der beste von allen ist Winschermann!“2

 

Durch die Mehrbelastung bedingt – Hochschulprofessur, Konzerttätigkeit mit seinem schon zu Beginn der Fünfziger Jahre in Detmold gegründeten Ensemble Collegium Pro Arte mit dem Flötisten Kurt Redel und Irmgard Lechner, die eine der ersten Klassen für Cembalo nach dem Zweiten Weltkrieg in Detmold inne hatte, das ab 1954 unter dem neuen Namen Collegium instrumentale Detmold auftrat, Gründung der Deutschen Bachsolisten 1960 –, musste Winschermann das Spiel auf der Barockoboe aufgeben, da die neuen Aufgaben ein intensives Üben auf dem barocken Instrument nicht mehr zuließen. Mag es auf der einen Seite für die zahlreichen Hörer des NWDR zur sonntäglichen Sendezeit der Cappella Coloniensis-Aufnahmen (immer unvergesslich sonntags 13:10 Uhr, ein Termin, der sogar von Begeisterten in der DDR wahrgenommen wurde, wie mir einige Kollegen mitteilten!) ein herber Verlust gewesen sein, so konnten die zahlreichen Konzerte mit Auftritten Winschermanns teils als Spieler, aber auch immer häufiger als Dirigent mit begeisternden Beispielen seiner Kunst ein wenig hinwegtrösten. Durch die Anregung des Auswärtigen Amts, Konzerte in den Goethe-Instituten im „Vorderen und Mittleren Orient und Fernost“ (Tibia 1/1990, S. 39) mit rein deutschen Programmen zu geben, erweiterte sich der Tätigkeitsraum und damit verbunden der Bekanntheitsgrad nicht nur des Ensembles, sondern vor allem derjenige ihres Leiters als Mitwirkender, Solist und Dirigent um ein Vielfaches. In diesem Ensemble musizierten Kollegen aus Cappella-Zeiten auf modernem Instrumentarium mit.

 

Es ist immer noch herzerfrischend und begeisternd, den alten Aufnahmen Winschermanns zu lauschen. Sein Oboenton klingt immer noch so frisch voluminös, elegant und immer noch „modern“. Gefragt nach seinem besonderen Stil, antwortete er: „Ich entwickelte für mich eine Art, die man vielleicht am besten mit dem ‚Singen auf der Oboe’ beschreibt.“ Und dieses Besondere, eigene des Stils kann man in all seinen Einspielungen in überzeugender Weise nachempfinden. Wie Winschermann es selbst in einem Interview (Tibia 1/1990, S. 36) schildert, kam er durch das Mitwirken in Konzerten des damaligen Kantors in Frankfurt und Leiters des Thomanerchores in Leipzig, Kurt Thomas darauf, der später gleichfalls eine Professur an der Detmolder Musikhochschule innehatte. Er beschreibt die Herangehensweise folgendermaßen: „Hier (in Frankfurt bei den Konzerten mit Thomas) spielte ich die großen Werke Bachs, und ich versuchte dabei immer, mich auch mit den Texten auseinanderzusetzen. Ich wusste etwa, was ‚Qui sedes‘ bedeutet und ich fühlte mich in diesem Augenblick an der Seite Gottes, wenn ich diese Arie aus der h-Moll Messe [BWV 232, Anm. d. Verf.] spielte“ (Tibia 1/1990, S. 36/37). Diese Art des Spielens nannte Johann Mattheson (1681–1764) im 18. Jahrhundert „Klangrede“3, ein Terminus, den in neuer Zeit Nikolaus Harnoncourt in inflationärer Häufigkeit sich zu eigen und bekannt machte. Mattheson hat das „redende“ Moment des Spiels der Oboe von Natur aus als ihr wesentliches Charakteristikum erkannt: „Der gleichsam redende Hautbois, Ital. Oboe, ist bey den Frantzosen / und nunmehro auch bey uns / das / was vor diesem in Teutschland die Schalmeien (von den alten Musicis Piffari genandt) gewesen sind / ob sie gleich etwas anders eingerichtet. Die Hautbois kommen (!) / nach der Flute Allemande , der Menschen=Stimme wol am nähesten / wenn sie mannierlich und nach der Sing=Art tractirt werden / wozu ein großer Habitus und sonderlich die gantze Wissenschafft der Singe=Kunst gehöret. Werden aber die Hautbois nicht auff das aller delicateste angeblasen / (es sey denn im Felde oder inter pocula [beim pokulieren in der Gastwirtschaft, Anm. d. Verf. ], wo mans eben so genau nicht nimmt) so will ich lieber eine gute Maultrommel oder ein Kamm=Stückchen davor hören ...“.4 Nach dieser Quelle ist Winschermann einer der ersten Instrumentalisten nach dem Zweiten Weltkrieg, der seinen Personalstil nach Maximen des Oboenspiels des 18. Jahrhunderts ausrichtete, was mit Mattheson verdeutlicht werden konnte.

 

Helmut Winschermann kann auf ein wahrlich erfülltes Musikerleben zurückblicken. Als Geiger an der Folkwangschule (wie sie damals noch hieß!) angetreten (1938), aber nicht als solcher ausgebildet, wurde er unmittelbar nach Eintritt der Oboenklasse von Johann Baptist Schlee zugeordnet, einem der renommiertesten Oboenlehrer bis in die Siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Nach zweijährigem intensiven Studium und ersten Orchestererfahrungen (Ruhrland-Orchester Essen, ging 1939 als Kurorchester nach Bad Homburg) führte ihn der Militärdienst als Mitglied einer Musikkapelle der Luftwaffe nach Paris. Diese nicht zu umgehende Zeit nutzte er, um neben seinen Diensten ein zweijähriges Oboenstudium bei Louis Bleuzet zu absolvieren. Diese Zeit reichte aus, den französischen Oboenstil – Winschermann: „Bleuzet vibrierte heftig ...“ (Tibia 1/1990, S. 36) – unmittelbar kennenzulernen, der aber sein Oboenspiel nicht beeinflusste (Tibia 1/1990, S. 36).

 

Die nächste große Erfahrung war sicherlich durch die Hinwendung zur Barockoboe gegeben. Wie Winschermann noch jüngst in einem Interview berichtete, war es August Wenzinger, einer der wenigen Erfahrenen im Aufführen Alter Musik und im Handhaben historischer Instrumente (Viola da Gamba, Blockflöte), der an der Schola Cantorum Basiliensis ein Orchester aus Dozenten und begabten Studenten leitete und ihn einmal fragte, ob er nicht auf der Barockoboe mitspielen möchte. Offensichtlich waren das die ersten Erfahrungen auf der Barockoboe, Erfahrungen, die dann später der Cappella Coloniensis zugutekommen sollten.5

 

Von Wenzinger sollte Winschermann auch die Anfangsgründe des Dirigierens erfahren haben („Nehmen Sie nur die Hände, und machen Sie eine musikalische Bewegung zu dem, was jetzt kommen soll.“), wie er in dem gleichen Interview zu berichten weiß6. Mit diesen ersten Anleitungen ausgerüstet und basierend auf seiner unendlich weitgespannten Musikalität konnte sich Winschermann an das Dirigat der von ihm gegründeten Deutschen Bachsolisten begeben, einer Vereinigung, die es ihm durch die zahlreichen Konzertreisen ermöglichte, vor allem nach Japan, zu seiner hohen Achtung, Bewunderung und Liebe gerade zu diesem Land zu gelangen.

 

Ich persönlich denke voller Bewunderung an diesen großen Musiker, hatte ich doch auch das Vergnügen, ihn mit den Deutschen Bachsolisten schon 1970 in einem Konzert in unserer Kölner Universität mit Peter Reidemeister (Querflöte), dem späteren Direktor der Schola Cantorum Basiliensis und Irmgard Lechner (Cembalo; sie spielte auf der Gräbner-Kopie, die 1911 der damalige Restaurator Otto Marx für das Heyersche Instrumentenmuseum in Köln gefertigt hatte und heute Teil der Instrumentensammlung des Musikwissenschaftlichen Instituts ist) hören und kennenlernen zu dürfen.

 

 

 

 

Anmerkungen:

1 Hierzu: Prasser, Christoph: Die Cappella Coloniensis des Westdeutschen Rundfunks. Studien zur Gründung und Entwicklung des Barockorchesters, Köln 2000 (Exemplar in der Bibliothek des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln), S. 81.

2 Laudatio zur Verleihung des Georg Philipp Telemann-Preises der Stadt Magdeburg an Prof. Helmut Winschermann, gehalten von D. Gutknecht, in: Mitteilungsblatt Internationale Telemann-Gesellschaft Nr. 27 (Dezember 2013), S.19–23, hier; S. 19

3 Mattheson, Johann: Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, Neuntes Haupt=Stück. Von den Ab= und Einschnitten der Klang=Rede., S. 180ff.

4 Mattheson, Johann: Das Neu=Eröffnete Orchestre, Hamburg 1713, Sp. 268.

5 »Ich wollte gerne singen auf meinem Instrument«. Der Oboist und Dirigent Helmut Winschermann wird in diesen Tagen 100 Jahre alt, in: Concerto Das Magazin für Alte Musik Nr. 290, März, April 2020, S. 20

6 Ebda., S. 21

 

 

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