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„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ ¹ Ingrid Tietsch (1927-2019) Berichte

 

 

 

 

 

Ingrid Tietsch am 31.03.2016 aufgenommen im Berliner Funkturm Restaurant (Fotografin: Katharine Hübner).

 

Worte des Abschieds zum Tode von Frau Ingrid Tietsch (1927–2019) Auszüge, entnommen aus der Trauerrede zu ihrer Begräbnisfeier am 07.01.2020 in Berlin-Britz. Überarbeitete und mit Nachweisen versehene Fassung; die ohne den freundschaftlich informativen und ergänzenden Austausch mit Hans-Michael Ganzer und Anselm Bockisch nicht möglich gewesen wäre.

 

Am 08. Januar 2020 wäre Ingrid Tietsch 93 Jahre alt geworden. In geistiger Frische hat sie noch ihren 92. Geburtstag im vergangenen Jahr gefeiert. Am 13. Dezember 2019 ist sie ruhig eingeschlafen. 

 

Frau Tietsch hat für die Musik gelebt, sie war bis ins hohe Alter ihr Lebensmittelpunkt, Erfüllung und teilweise Familienersatz zugleich. Sie schöpfte hieraus „bis in ihre letzten Tage Kraft, Freude und Zuversicht“2. Diesen Funken ihrer Begeisterung für die Musik, speziell für die Blockflöte, hat sie uns implementiert und zum Klingen gebracht. Noch in ihrem Alterssitz hatte sie ihr Klavier bei sich und gab von Zeit zu Zeit weiter Unterricht. Sie hat uns in für ihre Zeit untypischer Weise an moderne Musik herangeführt. Baumann, Cooke, Krickeberg, Martinu, Niehaus, Poser, Staeps, Taubert und andere zeitgenössische Komponisten wurden in den wöchtlichen Proben völlig selbstverständlich neben dem klassischen Repertoire für Blockflöte aufs Pult gestellt, geübt und später dargeboten.

 

Ich habe Frau Tietsch als Fünfjähriger durch die Blockflöte in der Fritz Karsen-Schule in Berlin-Britz kennengelernt und dann einmal in der Woche in ihrer Wohnung Unterricht erhalten. Irgendwann nach meiner Einschulung war ich soweit, an den von ihr initiierten Konzertreisen zunächst am letzten Pult der Sopranflöten, später dann am letzten Pult der Tenorflöten bis zum Aufstieg als Solospieler dort teilzunehmen. Die Reisen führten den Blockflötenchor Praetorius in den Jahren 1954 bis 1969 nicht nur zu zahlreichen Orten innerhalb West-Deutschlands, sondern auch nach Schweden, die Niederlande und Österreich.

 

Frau Tietsch muss eine gute Netzwerkerin3 gewesen sein, bei den Reisen Übernachtungsplätze auch in Familien vor Ort zu finden, Konzertbereite zu akquirieren und Konzertorte mit kulturellen Highlights zu verbinden. „Erstaunlich, wie sie all diese Reisen als Ich-AG organisierte und durchgeführt hat“4, die sich zu bis heute nachwirkenden und abrufbaren Erinnerungen verdichteten. „Für die mehr oder weniger eingeschlossenen Berlin-Insulaner [waren das] doch immer lohnende Erlebnisse“5; woraus sich vielfältige musikalische und kulturell touristische Höhepunkte entwickelten. Möglicherweise haben ihr dabei ihre vielfältigen Kontakte durch die an der Musikschule Neukölln alle zwei Jahre von 1953 bis 1961 stattgefundenen „Blockflötenwochen“ geholfen. Hier existierten zwei Blockflötenensembles, die sich bereits einen Namen über die Berliner Grenzen hinaus gemacht hatten: Das 1947 unter der Leitung von Rudolf Barthel gegründete Blockflötenorchester Neukölln und der von Ingrid Tietsch 1951/2 ins Leben gerufene „Spielkreis“, später Blockflötenchor Praetorius. Die Neuköllner Blockflötenwochen entwickelten sich zu einem Treffpunkt von Musiklehrern für dieses Instrument aus dem gesamten Bundesgebiet und dem Ausland, „um sich auf diese Art des Zusammenspiels zu informieren und die Arbeit weiterzutragen“6, berichtet Michael Kubik in der Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Blockflötenorchesters Neukölln 1997 und belegt dies mit überregional bekannten Namen von Lehrgangsteilnehmern: Helga M. Haase, Hanna Häusler, Linde Höffer-von Winterfeld, Käthe Kernbach, Dr. Hildemarie Peter, Anneliese Sack, Thea Gräfin von Sparr, Ingrid Tietsch und Rüdiger Trantow.

 

Wenn Musik durch ihre Flüchtigkeit charakterisiert ist, war dieser Umstand durch die Person von Frau Tietsch stets geerdet.

 

Irgendwann war in Neukölln für zwei renommierte Blockflötenensembles nebeneinander kein Platz mehr; zumal der Leiter der Musikschule in Neukölln, Rudolf Barthel, den Blockflötenchor Praetorius hierarchisch als personelles Rekrutierungspotential für sein Blockflötenorchester betrachtete. So wechselte Frau Tietsch 1961 mit ihrem Ensemble nach Steglitz zu dem dortigen Leiter der Musikschule, Rüdiger Trantow, der nach ihrem Wechsel umgehend für den Blockflötenkreis einen eigenen Namen verlangte. Fortan nannte sich der Blockflötenchor nach dem bekannten venezianischen Blockflötenspieler der Renaissance und ersten Lehrbuchautor für Blockflöte Silvestro Ganassi (1482–1565). 

Blockflötenensemble Ganassi unter Leitung von Ingrid Tietsch in Schweden, 1968/69 (Själevads Kyrka in Ornsköldsvik; Fotograf unbekannt)
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Erinnerungsbedürftige Umstände waren der „Auftritt“ des Blockflötenchores Praetorius, verstärkt um ein Streichquartett, im Großen Sendesaal des von Hans Poelzig (1869–1936) errichteten expressionistischen Haus des Rundfunks beim SFB (Sender Freies Berlin) in der Masurenallee des Berliner Westends, gegenüber dem Funkturm, wo ein Konzert aufgezeichnet wurde.

 

„Die Arbeit mit ihren Schülern war Frau Tietschs Leben und diese Arbeit war ja auch sehr erfolgreich: wie viele Konzerte haben wir gegeben und bei wie vielen Wettbewerben sind Gruppen aus dem Ganassi erfolgreich gewesen!“7, resümiert Barbara Stalinski, geb. Franke, in ihren Gedanken aus Anlass unserer Trauerfeier.

 

Im Juni 1965 erspielte sich ein Blockflötenoktett aus Berlin-Steglitz den ersten Preis im „Instrumentalen Zusammenspiel“ des 2. Bundeswettbewerbs Jugend musiziert in Remscheid/Bonn; dem ersten Mal, dass Blasinstumente und dabei auch die Blockflöte fokussiert wurden. Auf dem Programm stand damals die Grundfuge I aus Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach (1685–1750) und vier Rendsburger Tänze von Hans Poser (1917–1970). Dieser Umstand führte zu einer Einladung des gesamten Blockflötenchores Ganassi im Herbst 1965 in die von Peter Frankenfeld (1913–1979) beim ZDF moderierte Fernsehsendung Und Ihr Steckenpferd?. Auch beim 4. und 6. Bundeswettbewerb 1967 und 1969 waren wieder Oktette bestehend aus ihren Schülern erfolgreich.

 

 

Die Preisträger des 2. Jugendwettbewerbs „Jugend musiziert“ im Instrumentalen Zusammenspiel aus Berlin-Steglitz 1965: Irene Henze, Irene Hesse, Klaus Slapnicar, Elisabeth Wuschig, Elke Gärtner, Hans-Michael Ganzer, Martina Briesenick (als photographische Vertreterin für Martina May) und Adelheid Freising (von links)
Quelle: „jugend musiziert – preisträger 2. bundeswettbewerb, blasinstrumente“, Schallplatten-Cover: S. 4 Nr. 8
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Neben einem ihrer wenigen literarischen Dokumente8 wurde Frau Tietsch als Leiterin des Steglitzer Blockflötenchores Ganassi, 1994 von Dr. Hermann Moeck (1886–1982) interviewt. Darin gibt sie ein paar fundamentale Einstellungen ihrer musischen Arbeit preis. „Da die Blockflöte der Singstimme am nächsten kommt, ist sie in ihrer Variationsbreite … vom Sopranino bis zum Kontrabass für die meisten ein neues, für alle aber ein großes Klangerlebnis."9… „Ein Blockflötenchor hat einen weiten Spielraum für musikalische Aktivitäten, Spielpartner mit gleichen Interessen fördern sich dabei gegenseitig, was eine besonders belebende Spannung entstehen lässt.“10 Frau Tietsch legte dabei zeitlebens auf folgendes besonderen Wert: „Das Wichtigste – solo wie im Zusammenspiel – die Tonbildung, Intonation, Artikulation und Phrasierung gehören untrennbar dazu.“11

 

Dieses Credo verfolgte Frau Tietsch in ihrer Arbeit mit uns in ihrem Engagement pädagogisch geschickt als Lehrende, nicht nur um jeden Einzelnen individuell voranzubringen, sondern die Gruppe zu gemeinsamen Zielen zu führen, „die auch den inneren Menschen bilden und aufbauen.“12 Mit dieser konzeptionellen Zielverwirklichung zeigt sich ihre exzeptionelle gute Pädagogik. Aus der menschlichen Stimmähnlichkeit leitete sie auch stets die Bezeichnung eines Blockflötenchores ab und negierte die Begrifflichkeit eines Blockflötenorchesters13. Ihre Originalität drückte sich auch darin aus, dass sie es verstand, die dargebotenen Stücke unterschiedlicher Komponisten von 2-, über 4- bis 8-Fuß zu varieren.

 

Lange Jahre war Frau Tietsch Gastdozentin an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen für Lehrgänge im Bereich der Blockflöte. „Zunächst wurde sie als Spezialistin mit dem Schwerpunkt Leitung von großen Blockflötenchören – wie sie damals hießen – zur Mitarbeit im Dozententeam verpflichtet. Schnell aber stellte sich heraus, dass sie auf vielen Gebieten der Blockflötenmethodik und -didaktik höchst professionell aufgestellt war.“14 Als feste Dozentin wurde sie in vielen Fachbereichen eingesetzt; war dabei bei ihren Kolleginnen und Kollegen sowie den Teilnehmern „sehr beliebt und hoch geschätzt.“15 Infolge der Singularität der Trossinger Akademie mit Teilnehmern aus allen Ländern der Bundesrepublik wurde „ihr Name und ihr hervorragender fachlicher Ruf bundesweit bekannt.“, so die Einschätzung des Direktors der Trossinger Akademie, René Schuh (*1968).16 Auch ihr selbstverständlicher Zugriff auf zeitgenössische Komponisten wurde in Trossingen als eine ihrer chrakteristischen Fähigkeiten diesbezüglich bewundert.

 

Ab den 1970ern erschienen vier Schallplatten unter dem Dirigat von Ingrid Tietsch: zunächst: 1969: Tänze, dann 1971: Alte Kontratänze aus England im Mainzer Label Wergo, 1978: Musik aus Renaissance und Barock bei Lorby in Landshut und schließlich 1982: Anglaisen. 1996 wurde die CD Höfische Tänze – Kontratänze von Karl Heinz Taubert (1912–1990) bei Schott produziert.

 

Obwohl sie Dirigentin war, mochte sie diese Einkategorisierung gar nicht. Sie verstand sich stets als Leiterin und Helferin für das Vorankommen der Individuen und der Gemeinschaft. Sie nahm sich stets zurück, Fotos von ihr waren selten; noch geringer offenbarte sie persönliche Details. Die ihr nachgesagte Strenge war folgerichtige Fokussierung ihres auf die Qualität der Blockflöte gerichteten Lebens. Ihre Disziplin gegen sich selbst überzeugte und erzeugte unsere Disziplin beim Spiel. Eine Viertelpause ist nun eben nur einen Viertelschlag lang und nicht beliebig länger. Um diesen, ihren Ansprüchen zu genügen, gab es nur eins: üben und die dafür erforderliche Anstrengung. Darin war Frau Tietsch ebenso unerbittlich mit sich selbst wie mit anderen, um die Grundsätze und ihre dargelegten Fundamente eines Blockflötenchors qualitativ zu erreichen. Sie war natürliche Autorität, aber nicht autoritär. Damit gelang es ihr, Talente zu identifizieren, zu fördern in der Gemeinschaft, das Individuelle mit dem Kooperativen voranzubringen und zu verflechten. Ihre „herausragende Persönlichkeit“ … sowie „ihre offene, den Menschen zugewandte Art und ihre aufrichtige Freundlichkeit“17 kam ihr dabei zugute.

 

Sie hat uns nicht nur Töne vermittelt, Spielen auf der Blockflöte und/oder dem Klavier gelehrt, sondern mit alledem zusätzlich Geschilderten in uns die Melodie und die Harmonie des Lebens zum Klingen gebracht; das war ihre große anerkennenswerte Lebensleistung. „Die jetzige Begleitung von vielen ihr verbundener Menschen, einstiger Schülerinnen und Schüler, ist beredt für die Wertschätzung, die für sie bleibt nach ihrem enormen beruflichen Engagement für uns Musikliebhaber, Wegbegleiter ... aus Jahrzehnten, mit der wir heute auch wesentlich ihre hohe Verantwortungsbereitschaft für uns im jungen Alter zu schätzen wissen, um mit uns unvergeßliche Konzertreisen zu unternehmen.“18

 

Wir alle heute Versammelten haben durch sie nicht nur den concentus musicus, sondern die Welt außerhalb des eingeschlossenen West-Berlins kennenlernen dürfen. Dafür danken wir Frau Tietsch als Lehrerin, als Pädagogin, als Förderin und in all den anderen beispielhaft aufgezählten Facetten ihrer Aktivitäten und als großes Vorbild unserer eigenen Vita. Für Frau Tietsch war ihre Arbeit mit Schülern wie auch mit ihrem Blockflötenchor „ein nie endender Prozeß“19, auch eigener Selbstvervollkommnung. Mit ihrem engagierten Leben als Musikpädagogin haben wir prägende, unvergessene Erfahrungen mit Musik in unserer generationsübergreifenden Gemeinschaft in unterschiedlichen Blockflötenorchestern erlebt und in unseren eigenen Lebensweg mitnehmen und integrieren können.

 

Hans-Michael Ganzer, der die würdevolle musikalische Umrahmung des Abschiedes von ihr übernommen hat, war ab 1985 Frau Tietschs Nachfolger des sich wegen der Integration von Kortholten, Krummhörnern, Querflöten, Oboen, Fagotten und Trompeten vom Blockflötenensemble Anfang der 1970er Jahre umbenennenden Instrumentalkreises Ganassi. Er brachte sie nach den Proben in den letzten Jahren mit seinem Auto nach Hause. Dafür bedankte sie sich immer mit den Worten: „Vielen Dank für den angenehmen Heimflug.“ „Nun hat sie ihren letzten Heimflug angetreten“.20

 

 

Anmerkungen:

 

1 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, Sprüche und Pfeile, 1889.

2 Joachim Gleich an Michael Ganzer: Beerdigung von Frau Tietsch, e-Mail vom 07.01.2020.

3 Näher dazu: Michael Kubik: Das Blockflötenorchester Neukölln – Geschichtliche Voraussetzungen und Werdegang, in: 1947 – 1997, 50 Jahre Blockflötenorchester der Musikschule Neukölln, 1997, S. 17 f.

4 Klaus Rennicke, I. Tietsch, e-Mail vom 17.01.2020

5 Klaus Rennicke (Fn. 4).

6 Michael Kubik: Das Blockflötenorchester Neukölln – Geschichtliche Voraussetzungen und Werdegang, in 1947 – 1997, 50 Jahre Blockflötenorchester der Musikschule Neukölln, 1997, S. 18.

7 Barbara Stalinski an Michael Ganzer: Gedanken zu Frau Tietsch, e-Mail vom 02.01.2020. Vgl. auch Joachim Gleich an Michael Ganzer (Fn. 2).

8 Gerhard Braun/Ingrid Tietsch: Das Blockflötenensemble, in: Die Musikschule, Band V, Bausteine für Musikerziehung und Musikpflege, 1975, S. 103–121.

9 Ingrid Tietsch, Das Portrait, TIBIA 3/94, S. 202 f.

10 Fn. 9.

11 Fn. 9.

12 Ingrid Tietsch, Das Portrait, TIBIA 3/94, S. 202 und S. 204.

13 Dazu quintessentlich: Ingrid Tietsch, Das Portrait, TIBIA 3/94, S. 202.

14 René Schuh; Zum Nachruf auf Frau Tietsch aus Trossingen, e-Mail vom 09.03.2020.

15 René Schuh (Fn. 14).

16 René Schuh (Fn. 14).

17 Joachim Gleich (Fn. 2).

18 Ursula Diehl, Frau Tietsch, Erinnerungssplitter, e-Mail vom 29.12.2019.

19 Ingrid Tietsch, Das Portrait, TIBIA 3/94, S. 202.

20 Michael Ganzer, Gedanken zu Frau Tietsch, e-Mail vom 02.01.2020.

 

 

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