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Bernard Reichel und die Bambusflöte Fachartikel

 

Bernard Reichel (1901–1992)  studierte Komposition und Orgel in Basel, Genf und Paris. Von 1944 bis 1971 war er als Organist in Genf und von 1952 bis 1972 als Musiklehrer am Jaques-Dalcroze-Institut tätig.

 

Bernard Reichels kompositorisches Schaffen umfasst, ausgenommen Oper und Ballett, alle Genres. Der Katalog seiner Kompositionen (ca. 650 Werke) listet Instrumental- und Chorwerke auf, darunter mehrere Symphonien und Konzerte, Kantaten und Oratorien, Kammermusik und Musik für Orgel oder Klavier.

 

Innerhalb dieses Gesamtschaffens gibt es 37 Opuszahlen mit Werken für Bambusflöten. Dabei kommt es auch gelegentlich vor, dass unter einer Opuszahl mehrere Werke zusammengefasst wurden. So hat Reichel schätzungsweise 73 Stücke für dieses Instrument komponiert, wobei es möglicherweise noch mehr waren, er aber einige davon vernichtet hat. Diese Stücke sind bis auf wenige Ausnahmen relativ kurz. Wie kam Reichel aber als Komponist nun dazu, ein solches Repertoire für dieses Instrument zu schaffen? Um diese Frage zu beantworten, gilt es, die Geschichte der Bambusflöte näher zu beleuchten.

 

 

Die Anfänge der Bambusflöte

 

Die erste Bambusflöte wurde 1926 von Margaret James in Großbritannien entwickelt. Als Grundschullehrerin war sie auf der Suche nach preisgünstigen, guten Instrumenten, auf denen sie den Kindern aus ärmlichen Verhältnissen die ersten musikalischen Grundkenntnisse vermitteln konnte. Der Klang einer sizilianischen Hirtenflöte inspirierte sie dazu, selbst eine Flöte aus einfachem Material zu entwickeln, die jeder ihrer Schülerinnen und Schüler auch selbst bauen konnte. Gleichzeitig arbeitete sie parallel dazu an der Entwicklung einer Pädagogik rund um das Instrument und gründete 1932 die Piper's Gilde, die erste Bambusflötengilde Europas.

 

 

Ihre Einführung in der Deutschschweiz ...

 

1930 begegnete Trudi Biedermann, eine Schweizer Musikpädagogin, Margaret James in London und lernte dort das Instrument und seine Bauweise kennen. Begeistert führte sie die Bambusflöte in der Deutschschweiz ein und machte sie dort populär. Mit Unterstützung von Mimi Scheiblauer, Gründerin und Leiterin des Rythmikseminars des Konservatoriums in Zürich, überarbeitete und ergänzte sie die Methodik über Bau und Spiel dieses Instruments. In der Folge wurde 1936 die Schweizer Bambusflötengilde gegründet.

 

... und in der französischen Schweiz

 

1950 wird Jacqueline, die Ehefrau Bernard Reichels, für die Verbreitung des Instruments von Bedeutung. Zusammen mit Beatrice Scala, die ebenfalls Pädagogin war, machten die beiden Frauen das Instrument in der Romandie populär. Gemeinsam entwickelten sie Kurse sowohl für Kinder als auch für Erwachsene und 1953 überzeugte Jacqueline Reichel das Jaques-Dalcroze-Institut in Genf, das Instrument in den Lehrplan aufzunehmen und gab selbst dort Bambusflötenunterricht. Später wurde sie auch Präsidentin der Schweizer Bambusflötengilde.

 

 

Lernen durch „Begreifen“

 

Das Jaques-Dalcroze-Institut verfolgt den Ansatz, sich Musik durch körperliche Erfahrungen zu nähern, wie z. B. Musik und Rhythmus durch Bewegungen zu erfahren und am eigenen Körper zu empfinden. Die Bambusflöte unterstützt diesen Ansatz. Das Instrument selbst zu bauen, sich dabei zu überlegen, an welchen Stellen die Tonlöcher in das Holz gebohrt werden müssen, damit die Töne stimmen und die Tonhöhe durch Feilen des Bambus anzupassen ermöglichen, das Instrument an sich und die unterschiedlichen Klänge körperlich zu erfahren.

 

 

Eine Erfolgsgeschichte

 

Das Interesse an diesem Instrument und seinem Spiel stieg schnell exponentiell. Weitere Lehrkräfte wurden ausgebildet, und es wurden immer mehr Kurse an Schulen und Konservatorien angeboten. Neben ihrem ganzjährigen Unterricht für das Dalcroze-Institut gab Jacqueline Reichel auch zahlreiche, stark nachgefragte Sommerkurse in der Schweiz und in anderen Ländern.

 

 

Die ersten Kompositionen für Bambusflöte

 

Bernard Reichels erste Kompositionen für Bambusflöte sind bereits vor seiner Heirat mit Jacqueline und der Aufnahme des Instruments in den Lehrplan in der französischen Schweiz entstanden. Im Jahr 1941 schrieb er die Cinq quatuors pour flûte de bambou und Quatre pièces pour quatuor de flûtes de bambou. Die meisten seiner Werke für dieses Instrument entstanden jedoch erst später, zwischen den 1950er und den 1980er Jahren, was mit dem wachsenden Erfolg des Instruments in der französischen Schweiz dank seiner Frau zusammenfällt. Das Bedürfnis für dieses Instrument zu komponieren ist also auch stark von Jacquelines Wirken beeinflusst, die sich der Förderung des Instruments angenommen hatte und zu dessen vehementer Befürworterin wurde.

 

 

Weitere Entwicklung

 

Bernard ging es darum, Bambusflötenspielerinnen und -spielern die Möglichkeit zu geben, sich ein Repertoire aufzubauen. Mehrere seiner Werke richten sich daher an Spieler, die nicht unbedingt über Vorerfahrungen auf dem Instrument verfügen. So ist das Quartett für vier Bambusflöten aus dem Jahr 1953 mit dem Hinweis versehen: „für Anfänger, nur 6 Noten zu spielen“. Einige seiner Kompositionen sind für Bambusflötenensembles komponiert – dazu gehören Kanons, Suiten und eine Sarabande – die meisten aber sind Duos, Trios oder Quartette. Wir wollen alle fröhlich sein ist eine fünfstimmige Transkription eines Chorwerks aus dem Jahr 1960. In anderen Fällen mischen sich die Flöten mit verschiedenen anderen Instrumenten – manchmal gesellen sie sich zur Singstimme und zum Xylophon (Sieben Lieder mit Bambusflöten- und Xylophonbegleitung, 1964), zur Violine oder zum Klavier (Intermezzo, 1961), manchmal kommt noch das Spinett hinzu (Kleine Suite für Flöten, Violine, Spinett und Klavier, 1960). Die Partitur von Die Phantasie (1986) ist ambitionierter und für ein ganzes Bambusflötenorchester bestimmt, das hier mit Singstimme, Violoncello, Zimbeln und Tamburin ergänzt wird.

 

 

Bernard Reichels Verbindung zur Schweizer Bambusflötengilde

 

Mehrere Werke Reichels sind entweder dieser Vereinigung oder einzelnen Mitgliedern gewidmet, zum Beispiel:

Mélodie de Noël: Nous étions trois bergerettes, 1968, Musique pour marionnettes (1976), Werk für ein Marionettenspiel, erstmals aufgeführt anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Zeitschrift Flûtes de bambou – Association suisse, und die emblematische Kantate Die Phantasie (Text von Goethe), gewidmet der Gilde und Trudi Biedermann. Sie wurde 1986 bei der Generalversammlung der Vereinigung in Aarau uraufgeführt.

 

 

Transkription von Chorälen oder Volksliedern

 

Viele Werke sind Transkriptionen oder Harmonisierungen von Chorälen und Volksliedern, die durch Bambusflöten begleitet werden. Oftmals passen diese Lieder gut zum nicht besonders großen Tonumfang der Bambusflöten. Beispiele: Pour l'Avent, d'après un choral (1968), Trois chansons de Noël (1956) und Chansons populaires de France, einer Sammlung mit mehr als 80 Volksliedern (1970) usw.

 

 

„En famille“

 

Bernard Reichel komponierte auch Stücke für Instrumentalensembles, bei denen die Bambusflöte eine der Stimmen übernahm und die oft im Familien- und Verwandtenkreis entstanden. Récréation du dimanche, 14 leichte Stücke, 1963, wurden von ihm am Cello, Jacqueline an der Flöte und ihren beiden Kindern am Klavier und an der Violine gespielt. Familienfeste, wie Weihnachten (Cantate de Noël pour la famille, 1975) oder der Geburtstag seiner Frau (Trio pour un anniversaire, 1984, Jacqueline Reichel gewidmet) waren für ihn Gelegenheiten, Stücke zu komponieren, die in diesen besonderen Momenten gemeinsam gespielt wurden. Das gemeinsame Musizieren in der Familie hatte für ihn einen hohen Stellenwert.

 

 

Ein Repertoire nicht nur für Bambusflöte

 

Das gesamte von Bernard Reichel komponierte Repertoire für Bambusflöte kann auch mit Blockflöte oder sogar mit Querflöte gespielt werden. Einige Stücke, die ursprünglich für die Bambusflöte gedacht waren, werden gelegentlich auch mit Violine oder Singstimme aufgeführt. Bernard Reichel ließ es stets zu, dass ein für ein bestimmtes Instrument komponiertes Werk auch von einem anderen gespielt wurde. Manchmal gab er jedoch seine Präferenz zu erkennen, indem er ausdrücklich ein bestimmtes Instrumentarium benannte. Seiner Meinung nach muss ein Komponist den Interpreten vertrauen und ihnen bei der Aufführung Freiheiten lassen. Die Bambusflöte, als pädagogisches Instrument, hat durch ihn ein größeres Repertoire erhalten, das Einfachheit und Komplexität miteinander verbindet.

 

Weitere Informationen gibt die Association Bernard Reichel in Genf.

 

Liste der Kompositionen für Bambusflöten:

https://www.bernardreichel.ch/product-tags/flutes-de-bambou/

 

Übersetzung aus dem Französischen: Tibia

 

 

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Zur Thematik der Bambusflötenmusik im Blockflötenrepertoire beschäftigt sich der Artikel „Pipers's Music“ und „Pipeaux Mélodies“ von Peter Thalheimer

 

 

 

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