Für die zentrale Zeit der Barockblockflöte – und besonders für die Spielpraxis in Deutschland – ist also die Zuordnung von Repertoire und Blockflötentypus nicht so pauschal möglich wie in der Zeit vor 1710. Das entscheidende Kriterium ist wohl der Stimmton. Dort, wo er tief war, ist mit den traditionelleren, weiter mensurierten Flöten des Bressan-, Heitz- oder Stanesby-Typus zu rechnen, wo er hoch war mit dem engeren Jacob Denner- oder Eichentopf-Typus.
Allerdings können wir nicht für alle Werke aus den Jahren zwischen 1710 und 1730 feststellen, wo sie gespielt wurden und in welchem Stimmton sie gedacht waren. Bei der Wahl eines passenden Instruments hilft die Untersuchung der Durchschnittslage: Eher tief liegende Partien klingen besser auf weiter mensurierten Instrumenten, hoch liegende auf engeren.
Besonders schwierig ist die Zuordnung der Partien, die einzelne der erwähnten Hochtöne fis3, a3 und c4 verlangen. Für Bachs Weimarer Kantaten mit fis3, gis3 und a3 ist mit tiefgestimmten, weiter mensurierten Instrumenten zu rechnen. Als Telemann 1717 in Frankfurt seine Kantate „Daran ist erschienen die Liebe Gottes“ (TVWV 1:165) mit dem exponierten c4 geschrieben hat, dachte er wohl eher an den engmensurierten Denner- oder Eichentopf-Typus. In seinem Blockflötenkonzert F-Dur verlangt er außer dem c4 noch gis3 und a3. Da es nur in einer zeitgenössischen Abschrift aus den Jahren um 1730 überliefert ist, kann die Entstehungszeit und der Anlass nicht ermittelt werden. Weil Telemann hier auf das fis3 verzichtet, ist wohl ebenfalls mit dem Denner- oder Eichentopf-Typus zu rechnen.
Das Repertoire der Zeit nach 1730 kann am besten mit der Feststellung „keine Experimente“ charakterisiert werden. Die Phase der Hochtöne ist vorbei. Englische, niederländische und französische Instrumente sind weiterhin meist tiefer als in 415 Hz gestimmt. In Deutschland setzt sich die Tradition des Baus von Flöten im Denner-Stil fort. Daneben wurden speziell in Nürnberg auch Instrumente in der hohen Chortonstimmung gebaut, z. B. von Johann Benedikt Gahn und Johann Wilhelm Oberlender. Sie wurden wohl speziell zum Zusammenspiel mit den im hohen Chorton gestimmten Orgeln und den zugehörigen Kirchen-Streichinstrumenten hergestellt. Gegenüber der örtlichen Kammertonstimmung waren sie meist einen Ganzton höher. – Ungeklärt ist noch, an welchen Instrumententyp Vivaldi bei seinen Flauto-Stimmen gedacht hat. Sie reichen bis f3 und fis3, vermeiden aber das g3, das auf allen bekannten barocken f1-Blockflöten gut spielbar ist.
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Betrachten wir nun die heutige Blockflötenszene und ihren Umgang mit den historischen Fakten. Dabei fällt auf, dass der Schwerpunkt der Spielpraxis auf den Werken der Jahre zwischen 1715 und 1745 liegt. Das frühere oder spätere Repertoire wird selten gespielt. Verwendet werden dafür sogenannte Kopien von barocken Originalen, wobei nur einige wenige Modelle eine größere Verbreitung gefunden haben. Den Anfang machten 1967 Einzelstücke von Martin Skowronek nach Peter Bressan. Um 1970 brachte dann Friedrich von Huene die ersten Instrumente nach Jacob Denner auf den Markt. Huenes Entscheidung fiel für das Denner-Modell, weil er bei seiner Reise zu den europäischen Instrumentenmuseen festgestellt hatte, dass der Stimmton mehrerer Denner-Originale zwischen 410 und 420 Hz liegt. Die Nachbauten konnten leicht auf 415 Hz eingestimmt werden, also den Stimmton, der sich nach 1945 für Barockmusik durchgesetzt hat. Noch heute ist das Denner-Modell das verbreitetste, gefolgt von Instrumenten nach Thomas Stanesby jr. und Peter Bressan. Allerdings sind Stanesby- und Bressan-Originale ursprünglich um 5–15 Hz tiefer gestimmt als die von Jacob Denner.
Beobachtet und belauscht man heutige Spieler bei der Auswahl eines Instruments, so wird deutlich, dass sie meist nach einer Universalflöte mit dem Stimmton bei 415 Hz suchen, die gleichermaßen für Telemann, Bach, Händel und Purcell geeignet ist. Solche Instrumente hat es im 18. Jahrhundert nicht gegeben, deshalb kann das auch von einem Nachbau nicht erwartet werden. Das Denner-Modell war in der Tiefe immer schon leiser als eine Bressan-Flöte – dafür spricht dieses aber in der Höhe leichter an. Trotzdem müssen die Instrumentenbauer versuchen, den Wünschen ihrer Kunden nachzukommen. So entstehen oft Mischformen, auf denen man zwar das ganze Repertoire spielen kann, die aber weder für Telemann noch für Händel optimal geeignet sind. Heute gebaute Exemplare der verschiedenen Modelle unterscheiden sich folglich deutlich weniger als deren originale Vorlagen. Den Spielern und Käufern ist das allerdings nicht bewusst, weil es immer seltener möglich ist, originale Instrumente im Konzert zu hören oder gar selbst zu spielen. Statt einer Orientierung an den Originalen bildet folglich das Klangideal adaptierter Mischformen den heutigen Maßstab.
Ähnlich radikal wie die Vereinheitlichung des Klangideals wirkt die heute übliche Anpassung des Stimmtons. Bressans besterhaltene Originale haben Stimmtöne zwischen 400 und 408 Hz, sind also etwa einen Viertelton tiefer als 415 Hz konzipiert. Das Umrechnen der Maße und/oder das Kürzen des Mittelstücks führen zu einschneidenden Änderungen des Klangs und des Überblasverhaltens. Damit ändert sich auch die Spielbarkeit der Töne in der 3. Oktave.
Auch Änderungen an den Grifflöchern sind heute selbstverständlich geworden. Hier geht es um die Anpassung der originalen Griffe an die heute sogenannte „barocke Griffweise“. In der jetzt üblichen Form ist sie jedoch nicht historisch. Sie entstand, als Arnold Dolmetsch seine originale Bressan-Flöte durch Kürzen des Mittelstücks – oben und unten – auf 410 Hz brachte.2 Dadurch wurde der historische Gabelgriff für die 4. Stufe zu hoch und musste geändert werden.
Einen weiteren Eingriff stellen die heute selbstverständlich gewordenen Doppellöcher auf den beiden untersten Grifflöchern dar. Diese Spielhilfe war zwar schon Hotteterre bekannt – und trotzdem sind von den vielen erhaltenen Originalen des 18. Jahrhunderts nur etwa fünf mit Doppelbohrungen versehen. Johann Christoph Denner, Bressan und Steenbergen haben diese Instrumente gebaut. Warum waren Doppellöcher nicht Standard? Instrumente mit Einfachlöchern haben stabilere tiefe Töne als Instrumente mit Doppellöchern, außerdem verbessern Einfachlöcher die Spielbarkeit mancher Hochtöne. Offensichtlich war dies den damaligen Spielern wichtiger als eine Hilfe beim Halbdecken von Grifflöchern.
Vielleicht halten Sie die bisher geäußerten Gedanken für den puren Historismus, ganz im Sinn von „früher war alles besser“. Das wäre ein Missverständnis. Es geht vielmehr darum, den heutigen Fortschrittsglauben zu hinterfragen und die damit zusammenhängende Standardisierung der Alten Musik aus musikalischen Gründen zu relativieren. So wäre es z. B. für BlockflötistInnen durchaus denkbar, nicht das ganze Barock-Repertoire auf der modifizierten Denner-Einheitsflöte zu spielen, sondern auch weiter und länger mensurierte Instrumente einzusetzen. Außerdem könnte man z. B. auch einmal ein Instrument in der Originalstimmung erwerben, das nicht ins pragmatische Raster 465 – 440 – 415 – 392 Hz passt. Wenn der Generalbass z. B. von Gambe und Laute gespielt wird, ist auch ein Konzert in 400, 408 oder 392 Hz möglich. Man könnte auch einmal nach Kopien weniger populärer Instrumentenbauer Ausschau halten, z. B. nach niederländischen oder französischen Originalen, oder auch von Johann Christoph Denner, Johann Heitz, Johann Heinrich Eichentopf und Thomas Stanesby Senior. Sinnvoll ist das allerdings nur, wenn beim Nachbau der Sinn der Baukonzeption erfasst wird und erhalten bleibt – und nicht schon beim ersten Kopierversuch Stimmton, Griffweise und Tonlöcher verändert werden. Außerdem müssten Aspekte berücksichtigt werden, die sich nicht aus den standardisierten Vermessungen der Originalinstrumente ableiten lassen, wie z. B. die Spielbarkeit der Hochtöne.
Einige der angesprochenen Aspekte wurden anhand verschiedener Instrumente demonstriert:
1. Klangliche Unterschiede zwischen „Kopien“ nach dem gleichen Jacob Denner-Original von verschiedenen Instrumentenbauern, 415 Hz
Peter Apel, Heide 1978
Friedrich von Huene, Boston 1990
Fred Morgan, Daylesford 1982
2. Klangunterschied zwischen Instrumenten mit enger und weiterer Bohrung bei gleichem Stimmton 392 Hz
Fred Morgan, Daylesford ca. 1980, nach Ch. Bizey, Paris
Ralf Ehlert, Celle 2004, nach P. Bressan
3. Spielbarkeit der Töne fis3, a3 und c4
Kein anderes Modell funktioniert bei den Hochtönen ähnlich gut wie das Eichentopf-Modell (mit Einfach-Löchern). Leider kann das im Germanischen Nationalmuseum befindliche Original nicht mehr angespielt werden. Wir sind deshalb auf eine Kopie angewiesen.
Kopie nach J. H. Eichentopf, Leipzig, 422 Hz, von Herbert Paetzold, Schnerzhofen ca. 1982
Demonstriert wurde das fis3 in J. S. Bachs 4. Brandenburgischem Konzert BWV 1049, das a3 in G. Ph. Telemanns Konzert F-Dur (TWV 51:F1) und das c4 im 2. Satz desselben Werks, jeweils mit Griffen ohne Schalllochdeckung.
4. Originalinstrument
Demonstriert wurde der Klang der tiefen Lage eines unsignierten englischen Originals (408 Hz) von etwa 1720 im Vergleich mit dem Denner-Modell von F. Morgan.
Erinnern wir uns zum Schluss an eine Formulierung von Nikolaus Harnoncourt: „Jede Zeit hat genau das Instrumentarium, das ihrer Musik am meisten gerecht wird.“3 Wer das Glück hatte, viele Originalinstrumente zu spielen, wird Harnoncourt recht geben, wenn er weiter feststellte: Die Summe der Ausdrucksmöglichkeiten ist beim Musikinstrument immer gleich groß. Jede sogenannte Verbesserung eines Details am Instrument führt an einer anderen Stelle zu einer Einbuße.4