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In Memoriam Matthias Weilenmann 1956–2023
Jeremias Schwarzer und Dorothee Oberlinger im Gespräch.
Berichte
Jeremias Schwarzer studierte 1993–1996 an der Hochschule für Musik in Zürich bei Matthias Weilenmann.
Dorothee Oberlinger war einige Jahre Co-Dozentin der von Matthias Weilenmann ins Leben gerufenen interdisziplinären ASPECTE-Kurse auf Schloss Weikersheim und immer wieder seine Duo-Partnerin.
D.O.: Lieber Jeremias, wann hast du Matthias kennengelernt und wie hast du seinen Unterricht erlebt?
J.S.: Das erste Mal habe ich Matthias 1990 getroffen. Er machte gerade in Frankfurt eine Vertretung für Michael Schneider und kam blockweise zu uns. Ich habe sofort den Versuch von ihm sehr geschätzt, Alte Musik mit maximaler Information aber auch mit maximalem Ausdruckswillen zu versehen und so ausdrucksvoll wie möglich Blockflöte zu spielen. Er war künstlerisch extrem ambitioniert und es war sehr inspirierend, dass sein Unterricht immer ein großes poetisches Ziel hatte. Es ging nie um eine reine Kopfentscheidung, sondern seine Interpretationen waren immer sehr expressiv und unmittelbar. Sein großes Vorbild war Nicolaus Harnoncourt, mit dem er auch lange Jahre im Concentus Musicus zusammen arbeitete – und auch bei ihm ging es um Wissen immer in Verbindung mit dem persönlichen und authentischen Ringen um Ausdruck.
J.S.: Liebe Dorothee: Du hast mit Matthias als Kollegin auf der Bühne gestanden, wie habt ihr euch kennengelernt?
D.O.: Wir lernten uns in den 90ern bei einem Blockflötenwettbewerb in Calw kennen, wo Matthias einer der Juroren war. Ich erlebte dort ein sehr beeindruckendes Duokonzert mit ihm und Walter van Hauwe und habe ihn sofort als sehr zugewandten und freundlichen Kollegen empfunden. Seitdem waren wir eigentlich immer in Kontakt. Es kam dann eine Anfrage von ihm, als Dozentin bei seinen ASPECTE-Kursen auf Schloss Weikersheim mitzuwirken. Bei diesen einzigartigen Kursen war ich als Lehrende immer auch Lernende: dort ging es ja darum, Musik immer in den Kontext von Poesie, Malerei, Architektur, Gesellschaftswissenschaften oder Philosophie, etc. zu stellen. Nicht nur das, die Fragestellungen wurden immer ins Heute gespannt, mit Bezug zu unserer Lebenswelt, zu Neuer Musik oder freier Improvisation. Jeden Morgen ging es mit gemeinsamen Tanzstunden los, am Abend bildeten Lehrende und Studierende gemeinsam einen Chor. Matthias war ein außerordentlicher Chorleiter, immer ganz nah am Wort und dessen Ausdeutung. Durch die Kurse hat sich mit ihm eine regelmäßige Zusammenarbeit auch mit Duokonzerten entwickelt. Seine tief durchdachte dramaturgische Programmarbeit hat mich eigentlich bis heute geprägt und inspiriert. Wir gründeten (auch nach einem ASPECTE-Kurs) gemeinsam ein Trio mit Gerd Lünenbürger, das leider wegen des frühen und plötzlichen Tods von Gerd nicht lange bestand. Es gab u. a. ein sehr eindrückliches gemeinsames Konzert mit den beiden im Radialsystem Berlin. Das fast akribische Ausprobieren feinster Schattierungen im Consortklang, das Formen von Vokalfarben und Konsonanten in diesem Ensemble war fast wie eine Art Meditation.
D.O.: Habt ihr auch miteinander Konzerte gehabt?
J.S.: Ich habe 1993–1996 in Zürich bei ihm studiert, in der Zeit war ich eben doch sein Student und nicht sein Ensemble-Kollege. Ich kann mich an ein Konzert noch sehr gut erinnern, da haben wir zu dritt gespielt gemeinsam mit Kees Boeke, unter anderem spielten wir ein Stück von Kees, Eclipse. Das war sehr cool, als junger Student und gut 20 Jahren weniger Konzerterfahrung mit den alten Hasen zu spielen und ihr so unglaublich reichhaltiges Blockflötenspiel zu erleben. Kees war so derartig tiefenentspannt, Matthias enorm konzentriert und nach Ausdruck suchend. Man konnte beide in Sekundenschnelle an ihrem ihnen ganz eigenen Klang erkennen. Es gibt ja auch viele Blockflötistinnen und Blockflötisten, wo man beim Hören rätselt, wer gerade spielt. Ich habe noch eine alte Kassette, wo Matthias Cazzati auf einem frühbarocken Schwob-Sopran spielt. Dieser Klang konnte eben nur von ihm sein. Das zweite Konzert als Student mit Matthias war auch ein wichtiger Moment. Ich besuchte ihn zu seinem 40. Geburtstag; in der Zeit hatte er eine Gastprofessur in Bloomington/USA. Wir spielten gemeinsam ein Konzert und viele Koryphäen waren anwesend, unter anderem David Lasocki, der dort die Bibliothek leitete. Während der Proben habe wir gemerkt, dass wir am liebsten zusammen improvisieren wollten und haben mehrere eigentlich geplante Stücke kurzfristig aus dem Programm gestrichen, um mehr Freiheit dafür zu haben. Mein Studium bei Matthias war eine Station in meinem Leben, wo ich mit allen Sinnen gelernt habe und eine sehr wichtige Phase. Er hat mich nie begrenzt und zu Freiheit und Offenheit bestärkt. Sein Unterricht hatte ein poetisch forderndes Ausdrucksbedürfnis. Man war gemeinsam mit ihm direkt „mitten in etwas drin“. Man suchte gemeinsam, mit dem Ziel, mit Haut und Haaren etwas zu finden. Seine Studierenden oder auch seine Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer waren immer auch quasi die künstlerischen Partner und bei der gemeinsamen Entwicklung einer Interpretation erlebte er auch Krisen und drückte diese aus, wenn er nicht zufrieden war und nicht fand, was er suchte.
J.S.: Bei Matthias als Lehrer war im Hochschulkontext die Unterrichtsstunde also immer auch ein künstlerisches Ereignis. Er hat sozusagen darauf bestanden, dass eine konsequente, ausdrucksvolle Interpretation direkt in der Stunde stattfand und an sich und die Studierenden diesen Anspruch gestellt. Wir haben nun beide viel Erfahrung als Hochschullehrende – würdest du sagen, dass ein solcher Anspruch aus heutiger Sicht auch manchmal eine Zumutung für die Studierenden sein könnte? Sollte eine Unterrichtsstunde immer ein künstlerisches Ereignis sein?
D.O.: Der Beruf hat sich heutzutage sehr verändert. Es müssen im Unterricht sicher mehr als früher auch klare professionelle Tools und Strategien vermittelt werden. „Professionalisierung“ war vielleicht damals noch nicht so ein wichtiges Thema für das Studium. Aber ich bin absolut der Ansicht, dass eine Unterrichtsstunde immer auch die Suche nach einem künstlerischen Ereignis sein sollte! Und nicht nur eine Unterrichtsstunde. Wer lernt, unermüdlich und neugierig wie ein Kind immer neu zu suchen, bekommt damit doch das relevante künstlerische Tool fürs Leben. Mit Matthias jedenfalls konnte man auf die Suche gehen. Er hat mich mit seinen vielschichtigen, manchmal auch unergründlichen Facetten immer wieder beeindruckt und inspiriert.
Matthias Weilenmann starb am 11.4.2023
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