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„Noch ist jedenfalls bei mir keine Langeweile in Sicht!“
Jan Van Hoecke und Leonard Schelb im Gespräch mit Michael Schneider
Porträts
Foto (Ausschnitt): © Yat Ho Tsang
Nach seinem Studium bei Günther Höller und Walter van Hauwe und einem Preis beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD München 1978 konzertiert Michael Schneider als Block- und Traversflötist weltweit solistisch und mit seinem Kammermusikensemble CAMERATA KÖLN. Als Leiter seines Barockorchesters La Stagione Frankfurt und als Gastdirigent anderer Orchester führt er Opern, Oratorien und sinfonische Literatur aus Barock, Frühklassik und Klassik auf. Er wirkte als Professor von 1980 bis 1983 an der HdK (heute UdK) Berlin und von 1983 bis 2019 an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/Main, wo er neben seiner Blockflötenklasse das Institut für „Historische Interpretationspraxis“ mit einem eigenen Masterstudiengang aufbaute und leitete. Er hat fast das gesamte barocke Repertoire für Blockflöte auf CD eingespielt. Im Jahr 2000 wurde Michael Schneider von der Stadt Magdeburg der „Telemann-Preis“ für seine Verdienste um das Werk dieses Komponisten verliehen.
Dem Magazin Tibia ist er als Rezensent, Autor von Fachartikeln und langjähriger Mit-Herausgeber (2006–2020) verbunden.
Aus Anlass seines 70. Geburtstags im August dieses Jahres haben Leonard Schelb und Jan Van Hoecke ihm einige Fragen gestellt.
Jan Van Hoecke: Lieber Michael, wir gratulieren dir von ganzem Herzen zu deinem 70. Geburtstag und freuen uns in diesem Zuge mit dir das Interview führen zu dürfen.
Wir würden sehr gerne zunächst einen Blick mit dir in die Vergangenheit werfen: Du hast sehr viel gemacht und erreicht in deinem Leben als Musiker: unzählige Konzerte, etliche CDs, du warst als Hochschulprofessor sowohl in der Lehre als auch in der Selbstverwaltung extrem engagiert, du hast sehr viel dirigiert, Partituren des 18. Jahrhunderts für deine Ensembles abgeschrieben und teilweise sogar ediert. An welche Momente, Erlebnisse oder Entdeckungen erinnerst du dich besonders gerne zurück?
Ich hatte viel Glück! Unter anderem insofern, bereits während meiner Studienzeit in Köln in den 70er Jahren die meisten meiner Freunde fürs Leben gefunden zu haben, mit denen ich noch heute genauso gerne Musik mache wie damals. Daher sind mir die kostbarsten Erinnerungen gemeinsame Projekte mit den Mitgliedern meiner Ensembles, sei es bei Konzerten oder Aufnahmen.
Im Idealismus der meisten „unserer“ Musiker und im Geist, der uns antreibt, das zu tun, was wir tun, steckt ja so etwas wie die Utopie einer besseren Welt; und bei so manchen Gelegenheiten wird diese Utopie dann klingende Realität, vor allem, wenn dann noch ein wunderbarer Raum, ein tolles Publikum und natürlich zeitlos schöne Musik dazukommen!
Unvergesslich in diesem Sinne ist für mich ein Konzert im Wiener Musikvereinssaal mit Haydn-Sinfonien oder erst im vergangenen Jahr das Concerto-Grosso-Project im Casals-Forum in Kronberg.
Entdeckungen? Auf der Blockflöte vielleicht das Privileg, als erster das von Steffen Voss und Johannes Pausch neu entdeckte Blockflötenkonzert von Fasch gespielt und aufgenommen zu haben.
Als Musikforscher und Dirigent: das Passionsoratorium La Colpa, il Pentinento e la Grazia von Alessandro Scarlatti und das Stabat Mater von Franz Ignaz Beck: beide meines Erachtens einzigartige, visionäre Meisterwerke!
JVH: Weißt du noch wie viele CDs es mittlerweile geworden sind und welche gefällt dir im Besonderen?
Wenn man auch Boxen als nur je eine CD rechnet, sind es deutlich mehr als 100 Aufnahmen aus allen Bereichen. (Aber die schiere Menge tut ja nichts zur Sache!) Die ersten Aufnahmen stammen noch aus den späten 70ern. Seitdem sind ja immerhin mehr als 40 Jahre vergangen, in denen sich so Einiges angesammelt hat. Meist höre ich eigene Aufnahmen nach der Verabschiedung des Masterschnitts nicht mehr an.
Meine Kollegen erzählen immer wieder süffisant die Begebenheit, bei der wir – zu fünft im Auto sitzend – das Radio anschalteten und uns mitten im 1. Satz des Vivaldi C-Dur-Konzerts befanden. Ich muss nicht sehr liebenswerte Worte gefunden haben über den Kollegen oder die Kollegin, die man da hörte. Bei der Absage stellte sich dann heraus, dass ich es selbst war!
Aber mittlerweile gibt es doch Aufnahmen, die ich bei etwas zeitlichem Abstand gerne wieder höre – und die ich nach wie vor als gelungen empfinde: Dazu gehören die mittlerweile schon recht betagten Aufnahmen der Vivaldischen Concerti da camera mit der Camerata Köln oder die mit den barocken Blockflötenkonzerten, entstanden mit der Cappella Academica Frankfurt, einer Gruppe aus Kolleginnen und Kollegen um Petra Müllejans sowie avancierten Studierenden der Frankfurter Hochschule. Dazu gehört auch die Gesamtaufnahme von La Stagione Frankfurt und Camerata Köln sämtlicher Telemannschen Concerti mit Bläserbeteiligung. Das letztere Projekt hat sich über etliche Jahre hingezogen; schlussendlich wurden es zusammen allein 16 CDs mit unglaublich schöner und abwechslungsreicher Musik – da ertappe ich mich bei langen Autofahrten, nach dem Hören der letzten Scheibe dabei, gleich wieder vorne anzufangen!
Besonders gelungen finde ich auch die Aufnahme mit den 6 Ouvertüren-Suiten nach der Kleinen Kammermusik wie auch die jüngste Edition Schwanengesang mit Telemanns letzten Orchesterwerken. Und dann auch immer wieder die Sinfonien von Franz Ignaz Beck, für mich einer der aufregendsten Komponisten des gesamten 18. Jahrhunderts.
Leonard Schelb: Ganz einfach gefragt: Wie konntest du das alles unter einen Hut bringen?
Ehrlich gesagt, weiß ich im Nachhinein auch gar nicht mehr, wie ich das alles allein zeitlich geschafft habe: zusätzlich zu einer Leitungsposition in der Hochschule, zeitweilig auch als deren Dekan und Vizepräsident, Familie mit 2 Söhnen, Konzert- und Aufnahmetätigkeit, vollem Unterrichtsstudienplan und so Manchem mehr (darunter ja auch ein wenig Schreiben für Tibia!). Bei Eintritt meiner Pensionierung 2019 wurde mir bewusst, dass trotzdem nicht ein einziges Mal während meiner gesamten Hochschultätigkeit eine Unterrichtsstunde wegen Krankheit ausgefallen wäre.
Ich glaube, es ist einfach meine immer noch währende Begeisterung für Musik und für meinen Beruf, der fordernd, aber enorm anregend, vielgestaltig und beglückend ist!
Und natürlich: die vielfältige Hilfe meiner Frau Annette, meiner Kolleginnen und Kollegen oder die meiner engsten Mitarbeiter in den Ensembles, wie gesagt: den Freunden seit Studientagen.
LS: Du hast ja irgendwann das Dirigieren entdeckt, leitest seit Jahren „dein“ Orchester La Stagione und wirst auch immer wieder von modernen Orchestern als Gastdirigent eingeladen. Mich würde sehr interessieren: wann war das und vor allem wie kam es eigentlich dazu?
Das mit dem Dirigieren hat sich ergeben, als 1988 größere Projekte wie Opernaufführungen anstanden. Da lag es dann nahe, den aus der Camerata Köln vorhandenen Personalstamm mit weiteren Musikern aufzustocken, die ich ja alle vom gemeinsamen Musizieren als Flötist kannte, zunächst noch aus der Kölner und Hannoveraner Szene, später zunehmend auch mit Frankfurter Leuten aus eigener Ausbildungstätigkeit.
Dirigieren funktioniert ja wie das Unterrichten hauptsächlich durch „learning by doing“. Ich bin dankbar, dass mir meine Mitmusizierenden viele Fehler und Ungeschicklichkeiten immer verziehen haben. Mittlerweile habe ich ein Gespür dafür, wie ich erreichen kann, was ich will – in den meisten Fällen auch mit modernen Orchestern.
Dirigieren im klassischen Sinne kann man das natürlich nicht nennen, was wir (damit meine ich die meisten dirigierenden Vertreter unserer Szene) da vollbringen! Ich würde niemals im Leben eine Strauss-Oper dirigieren wollen! Aber u. a. Frans Brüggen und Nikolaus Harnoncourt haben bewiesen, dass das, was klingend herauskommt, durchaus modellhafte Qualität haben kann. Ich bin Fan der Berliner-Philhamoniker-App Digital Concert Hall: hier kann man die „richtigen“ Dirigenten bewundern wie Petrenko, Bychkov, Fischer, Järvi oder Rattle – aber es fällt auf, dass nahezu alle Persönlichkeiten dieses Kalibers in den die Konzertaufzeichnungen begleitenden Interviews auf Nikolaus Harnoncourt als künstlerische Referenz verweisen!
JVH: Nun wendest du dich wieder neuen Bereichen zu und übst Cembalo und Partimentospiel. Verändert das deinen Blick auf die Musik?
Ja, ich nutze die nach der Pensionierung gewonnene Zeit hauptsächlich dazu, mich mit Themen zu beschäftigen, die mir schon immer auf der Seele brannten. Es drängt mich, immer besser zu verstehen, wie die Komponisten „getickt“ haben und was sie veranlasst hat, eben diese Töne und keine anderen Noten aufs Papier zu schreiben.
Cembalospiel ist meine neue Leidenschaft, obwohl ich nie eine Stunde Unterricht auf diesem Instrument hatte: ich hole jetzt einen Traum nach, völlig autark auf den Tasten vollständige Musik machen zu können – auch wenn das für meine professionelle Musikpraxis als Flötist oder Dirigent nur eine hintergründige ideelle Relevanz hat.
Das mit dem Partimentospiel war vor einigen Jahren eine echte Entdeckung: heute übe ich nach Möglichkeit jeden Tag ein Partimento von Fenaroli, Durante, Leo oder Mattei – sozusagen als zur täglichen Hygiene gehörig.
LS: Michael, du warst und bist immer noch ein ausgesprochen engagierter Lehrer. Alle deine Studierenden, mich eingeschlossen, haben wahnsinnig viel Inspiration, Wissen, Technik und Freude an der Musik empfangen. Aber wie sieht es anders herum aus? Hast du von deinen Studierenden etwas gelernt und hat es eventuell sogar dein eigenes Spiel verändert?
Aber natürlich!!
Ich hatte ja das große Glück, bereits mit 26 eine Hochschulstelle antreten zu dürfen. In den 45 Jahren bis heute glaube ich, mich ständig weiter entwickelt zu haben, sowohl was mein Spiel als auch was meinen Unterricht betrifft. Meinen Studierenden verdanke ich dabei durch ihre Herausforderungen und Anregungen unendlich viel, ebenso wie meinen Kolleginnen und Kollegen!
Es war als Lehrer immer mein Ziel, den Studierenden nicht nur „Skills“ zum Blockflötenspiel beizubringen, sondern Leidenschaft für die Sache Musik zu wecken und dabei immer wieder die Sinnfrage zu stellen: warum verlangen dieser oder jener Komponist bzw. dieses oder jenes Stück eine ganz bestimmte Art der Darstellung.
Deshalb habe ich auch immer vehement die Mehrfachqualifikation meiner Studierenden auf verschiedenen Instrumenten unterstützt. Ich bin sogar ein wenig stolz darauf, dass neben erfolgreichen Blockflötenspielerinnen und -spielern so manche heute vor allem mit einem anderen Instrument im Musikleben erfolgreich sind: Cembalistinnen wie Sabine Bauer, Wiebke Weidanz oder Sonja Kemnitzer, Fagottistinnen wie Marita Schaar-Faust und Katrin Lazar, Cellistinnen wie Marie Deller – und nicht zuletzt Traverso-Professoren wie Leo Schelb!
LS: Als du selber studiert hast, sah die Ausbildung ja noch ganz anders aus, was wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Magst du uns einmal aus deinem Studium berichten? Was für Angebote gab es, was hat gefehlt, was war vielleicht sogar schon gut ausgebaut?
Es gab zu unserer Studienzeit in Deutschland noch keine Alte-Musik-Abteilungen, nur einige Stellen und Studiengänge für Instrumente ohne modernes Pendant wie Cembalo, Blockflöte, Laute und Gambe. Es wurden uns keinerlei Veranstaltungen für Hintergrundwissen angeboten oder Fächer wie Generalbass– heute eine Selbstverständlichkeit in einer HIP-Abteilung.
Was z. B. die Traversflöte betrifft, mussten wir uns auch unsere Basisinformationen auf Kursen holen. Aber diese Kurse, wie in Bremen in den 70ern oder in Innsbruck, waren einfach großartig! Sie repräsentieren für mich geradezu die „Goldenen Jahre“ des Aufbruchs: Bremen 1974 mit Gustav Leonhardt, den Kuijken-Brüdern und Anner Bylsma war für mich ein echtes Erweckungserlebnis! Und dann in Innsbruck Jesper Christensen in seinen Generalbass- und Kammermusikunterrichten! Man konnte nicht nur unendlich viel lernen, sondern traf auch internationale Freunde fürs Leben.
Sehr schade, dass diese Kurse so langsam alle verschwinden!
Für uns gehörte es in Vor-Internetzeiten auch zum Metier, in Bibliotheken zu reisen, Mikrofilme zu bestellen, aus verblichenen Xerokopien Noten mit der Hand abzuschreiben. Heute steht alles für alle im Netz; aber ich bezweifle, dass das vorhandene Angebot mit ähnlicher Leidenschaft genutzt wird, wie wir sie damals einbrachten.
JVH: Ich habe gesehen, dass du auf YouTube (https://www.youtube.com/@michaelschneider3584) aktiv geworden bist, sowohl mit der Blockflöte, als auch mit Cembalo und als Dirigent. Ist das ein Teil der Zukunft? Was hast Du noch vor? Gibt es neue Projekte, CDs oder Editionen? Und vielleicht für einige Leser interessant: wird es weiterhin Meisterkurse mit dir geben?
Das mit YouTube war wie bei vielen aus purer Corona-Verzweiflung entstanden! Außerdem finde ich Walter van Hauwes und Kees Boekes Projekt mit van Eyck wunderbar! Da habe ich mich dann auch mit einigen Nummern beteiligt. Es sind einfach herrliche Übe-Herausforderungen, mal z. B. die wirklich schweren Psalmen aus dem Fluyten-Lusthof zu spielen!
Heute mache ich nur noch Sachen, zu denen ich große Lust habe und um die ich gebeten werde. Dafür leiste ich dann auch großen Einsatz!
Ich freue mich, im November auf Einladung von Carsten Eckert eine Masterclass mit gemeinsamem Konzert in Wien zu geben, ich halte an mehreren Hochschulen Vorträge zu aufführungspraktischen Themen (die dann zuweilen als Beiträge in Tibia landen). Es ist tatsächlich so, dass ich zur Zeit viel mehr übe und forsche als in den vergangenen 40 Jahren.
Es geht mir in etwa so wie dem über 90-jährigen Pablo Casals, der von einem Journalisten gefragt wurde, warum er denn immer noch mehrere Stunden täglich übe. Seine Antwort war: „Ich denke, ich mache Fortschritte!“
2024 gibt es mit La Stagione Frankfurt fünf große Projekte auf den Festivals in Karlsruhe, Magdeburg, Schwetzingen, Halle/Saale und Kronberg. Da geht es in konzeptionellen Programmen zumeist um Oper mit dem Geburtstagskind Reinhard Keiser im Umkreis von Händel, Mattheson und Telemann.
Noch ist jedenfalls bei mir keine Langeweile in Sicht, und ich habe allen meinen Freunden versprochen, sofort abzutreten, wenn etwas nicht mehr funktioniert und ich peinlich werde.
Ich möchte, wie mein ehemaliger Lehrer Günther Höller so schön sagte, vermeiden, „von der Bühne geprügelt werden“ zu müssen.
JVH: Lieber Michael, vielen Dank für dieses Gespräch! Wir wünschen dir noch viele gesunde Jahre mit vielen tollen musikalischen Projekten!
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