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Dilettant: Ein Begriff im Wandel Fachartikel

 

Wer das Schöne weder weiß noch fühlt, ist ein Tropf; wer es fühlt, ein Liebhaber; wer es weiß, ein Kunstphilosoph; wer, was er davon fühlt und weiß, auszuführen strebt, ein Dilettant; wer es ausführt, ein Künstler1

 

Der Liebhaber ist empfindungsvermögend. Er ist empfänglich für die Wirkung, die Kunst auf ihn tut und rezipiert genießend. Sein Zugang ist passiv und emotional bestimmt.

Der Kunstphilosoph verfügt über Einsicht in Grundprinzipien dessen, was er wahrnehmend empfängt. Er besitzt die Fähigkeit, ein Werk zu analysieren. Er ist empfänglich für Kunstwahrheit. Er vereint Gefühl und Verstand, Empfindung und Erkenntnis.

Der Dilettant ist ein impotenter Künstler. Er will, kann aber nicht.

Erst der Künstler vereint Empfindungsvermögen, Einsicht und Können in sich.

Bezeichnenderweise erwacht das Bedürfnis nach klarer Definition und Trennung des Künstlers vom Dilettanten in einer Zeit, in der die Kunst beginnt Autonomie, der Künstler Exklusivität für sich zu beanspruchen.2 Es ist die Zeit des Geniekultes und der Unbedingtheit künstlerischen Handelns sowie damit zusammenhängend der Entwicklung eines öffentlichen Konzertwesens.

Repräsentativ für die Diskussion um den Begriff des Dilettanten sowie den Wandel, den er um 1800 erfährt, steht das fragmentarische Gemeinschaftswerk „Über den Dilettantismus oder die praktische Liebhaberei in den Künsten“ Friedrich Schillers und Johann Wolfgang von Goethes, in dem das Kriterium des Broterwerbs durch ideologische Merkmale wie Veranlagung, innere Haltung der Kunst gegenüber und hartes, aufopferndes Studium ersetzt wird.

Bis Ende des 18. Jahrhunderts bezeugt der Begriff „Dilettant“ lediglich eine nicht vorhandene Erwerbstätigkeit, was unter Umständen sogar als Privileg wahrgenommen wird.

 

Abb.1: André Bouys (1656-1740): Michel de La Barre und andere Musikanten, The National Gallery, London (CC By-NC-ND)
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Das Bild von André Bouys zeigt vier Flötisten und einen Gambisten. Wahrscheinlich handelt es sich um vier Berufsmusiker (darunter Jean-Baptiste-Antoine Forqueray, Michel de La Barre, Jacques Hotteterre) und einen Dilettanten. Der Dilettant ist erkennbar an seiner aufwändigen, reich verzierten Kleidung sowie an der ebenso kostbaren Elfenbeinflöte.

Benedetto Marcello, angesehener und exzellent ausgebildeter Komponist im 18. Jahrhundert, stellt sich auf dem Titel seiner Concerti a Cinque Op. 1 von 1708 als „nobile Veneto dilettante di contrappunto“ vor. Benedetto Marcello stammte aus einer wohlhabenden Patrizierfamilie, sodass Broterwerb für die Veröffentlichung von Kompositionen keine notwendige Motivation darstellte.3

Das Kriterium der nicht vorliegenden Erwerbstätigkeit für den Gebrauch des Begriffs „Dilettant“ liegt auch einer Auflistung von Dilettanten und Virtuosen im „Jahrbuch der Tonkunst in Wien und Prag“ von 1796 zu Grunde. Als Virtuosen werden hier Personen bezeichnet, die – im Unterschied zu Dilettanten – ihren Lebensunterhalt mit der Musik verdienen. Es handelt sich also um professionelle Musiker nach heutigem Verständnis. Es finden sich in dieser Aufzählung etliche Beispiele von Personen, die, gemessen an ihren Fertigkeiten, durchaus in die Sphäre professioneller Musikschaffender zu zählen und dennoch als Dilettanten aufgeführt sind. Es muss sich also um Personen handeln, die nicht von Musik leben (müssen).

 

„Bridi, ein junger Großhändler. Als Dilettant ist er gewiss die Krone aller unserer Tenoristen. Er liest ohne Schwierigkeiten alles vom Blatte weg, und hat eine sanfte, seelenvolle Stimme, in welche er durch die gefühlvolle Methode so viel Zauber legt, als ihm selbst beliebt. In scherzhaften Arietten schäkert er, in pathetischen Arien deklamiert er mit ungeschmücktem Ausdruck und im Adagio sind seine Töne schmelzend …“4

 

Zusammenfassend lassen sich in historischen Textdokumenten des mittleren 18. und frühen 19. Jahrhunderts die Begriffe Liebhaber, Kenner und Künstler (mit den Begriffsvarianten Dilettant, Tonkünstler, Virtuose) unterscheiden, wobei immer eine spezifische entweder rezeptive oder produktive Beziehung zur Kunst gemeint ist. Der Liebhaber tritt sowohl vor als auch nach 1800 in unterschiedlichen Qualitätsstufen entweder rezipierend oder (auch) produzierend auf. Der Kenner ist ein anspruchsvoller, gebildeter Rezipient. Der Künstler, naturgemäß produktiv, unterscheidet sich vom praktizierenden Liebhaber, der ab Ende des 18. Jahrhunderts auch als Dilettant bezeichnet wird, durch seine Arbeitsweise, Begabung und Unbedingtheit. Dadurch, dass Schiller und Goethe (stellvertretend für eine Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Neubewertung) das Kriterium des Broterwerbs durch den Aspekt der Arbeitsweise und inneren Haltung quasi ersetzen, erhält der Begriff „Dilettantismus“ die pejorative Nebenbedeutung, die auch im heutigen Sprachgebrauch mitschwingt. Im mittleren 18. Jahrhundert allerdings stehen Liebhaber, Kenner und Künstler noch in einem symbiotischen Verhältnis und die Liebhaberkultur trägt erheblich zu einem reichhaltigen Kulturleben bei. Als Mäzene, Schüler, Käufer, Veranstalter und nicht zuletzt als Publikum bedeuten Liebhaber die notwendige Voraussetzung für die Lebens- und Schaffenswelten professioneller Musiker. Lassen wir ergänzend Carl Friedrich Cramer zu Wort kommen, um die Inklusion des Liebhabers im Musikkosmos des 18. Jahrhunderts, hier sogar mit einer Vorrangstellung gegenüber Berufsmusikern, zu bestätigen:

 

„Leute, denen die Musik eine saure Arbeit wird, können dabei ohnmöglich die Lust und den Kunsteifer behalten, der notwendiger Weise da sein muss, wenn man in der Kunst selbst immer vollkommener werden und dadurch zur Vollkommenheit des Ganzen beitragen will“5

 

 

 

Notenveröffentlichungen für Liebhaber

 

Die an Liebhaber adressierte Veröffentlichung von Notenmaterialien, Musikjournalen oder Almanachen bedeutete Musikern des 18. und 19. Jahrhunderts eine wichtige Einkommensquelle und selbstverständlichen Bestandteil einer professionellen Sebstvermarktungsstrategie.

Im folgenden sollen stellvertretende Beispiele dargestellt werden.

Carl Philipp Emanuel Bach veröffentlichte in den Jahren 1779 bis 1787 (Hamburger Zeit) eine der bedeutendsten Sammlungen, die sich (qua Titel) auch an Liebhaber richtet. Seine sechs Bände mit Sonaten, Rondos und Fantasien für „Kenner und Liebhaber“ erschienen im Eigenverlag.

 

Abb. 2: Verzeichnis der Pränumeranten aus: C. P. E. Bach: Clavier-Sonaten für Kenner und Liebhaber, Erste Sammlung, Leipzig 1779
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Lange Pränumerantenlisten (Abb. 2) bestätigen große Beliebtheit und eine facettenreiche Käuferschar. Unter den Pränumeranten stehen Personen des Adels neben Käufern  aus der bürgerlichen Schicht, Männer neben Frauen, Experten neben Liebhabern. Die einzelnen Bände enthalten jeweils sechs Stücke von unterschiedlichem technischen und musikalischen Schwierigkeitsgrad. Die Rondos richten sich wohl eher an Liebhaber, während die Fantasien offensichtlich an äußerst versierte Spieler adressiert sind. Die Sonaten sind teilweise für Liebhaber, teilweise für fortgeschrittene Kenner denkbar. Bach reagierte mit dieser sechsteiligen Sammlung also auf ein vielschichtiges Publikum, er kommt sowohl den Bedürfnissen von Liebhabern nach, die zum Vergnügen in den eigenen Privaträumen musizieren, als auch den Ansprüchen fundiert gebildeter Musikkenner und erstklassig ausgebildeter Klavierspieler.

Bach veröffentlichte außerdem 1770 (also auch in seiner Hamburger Zeit) ebenfalls im Eigenverlag 6 Klaviersonaten mit dem bemerkenswerten Untertitel „all uso delle Donne“ (Damen-Sonaten). Das häusliche Musizieren, besonders am Tasteninstrument, gehörte zu der Grauzone im musikkulturellen Leben des 18. und 19. Jahrhunderts, in der Frauen legitim, sogar ausdrücklich erwünscht waren. Die Tatsache, dass Frauen aus dem öffentlichen Raum des Musiklebens weitestgehend ausgeschlossen oder nur unter großen Widerständen teilhaftig waren, kann in diesem Rahmen nicht erörtert werden. Im Zuge der Betrachtung von Liebhaber-Literatur lässt sich allerdings die immense Fülle an Damen-Musik für Tasteninstrument zumindest erwähnen.

 

Insbesondere für Stimme und Begleitung bietet der Musikalienmarkt des 18. und 19. Jahrhunderts eine reichhaltige Auswahl an Materialien. Besonders in Berlin um 1800 erscheinen explosionsartig unzählige schlichte Lieder mit einfachen Begleitungen für den Haus-Gebrauch. Johann Friedrich Reichhardt komponierte etwa 1500 Lieder für die private Erbauung. Viele seiner Sammlungen sind an Frauen gerichtet, wie beispielsweise die 1798 in Leipzig gedruckten „Wiegenlieder für gute deutsche Mütter“. Das Beispiel verdeutlicht den erzieherischen Aspekt von Veröffentlichungen für das musikaffine Bürgertum. Reichhardt schreibt im Vorwort zu den Wiegenliedern:

 

„Gute deutsche Mütter stillen und pflegen ihre Kindlein selbst und singen sie wohl gerne in den Schlaf“ 6

 

und manifestiert damit das idealtypische Familienmodell des frühen 19. Jahrhunderts. Neben Wiegenliedern versorgt Reichhardt das deutsche Bürgertum mit Liedern für jeden Anlass und jeden Gemütszustand.

 

Auffallendes, verbindendes Merkmal von Liedern, die in Sammelbänden oder Almanachen veröffentlicht werden, ist die Verwendung deutschsprachiger Vortragsbezeichnungen. Die Lieder sollen „langsam und gerühret“, „ein wenig munter und sanft“, „lebhaft, aber nicht zu geschwind“ etc. interpretiert werden. Diese Art der Vortragsbezeichnung trifft den Nerv der Werther-Zeit mit ihrer Hinwendung zum Subjektiven, zur Empfindung.

 

Zu Veröffentlichungen, die sich (auch) an Dilettanten richten, gehören auch Stücke, bei denen ein Akteur exponiert auftritt und über hohes technisches Niveau verfügen muss, während eine oder mehrere andere Akteure begleitende Funktion einnehmen und von Dilettanten ausgeführt werden können. Louis Spohr verweist auf diese Praxis in seiner Vorrede zur Violinschule:

 

„So wird er (der Dilettant) […] es doch so weit bringen können, dass er im Quartett-Spiel, durch Accompagnieren beim Pianoforte und durch das Mitwirken bei großer Orchestermusik sich und anderen wirkliche Kunstgenüsse bereiten kann“7

 

(Übrigens sollte der Dilettant laut Spohr für das Unterfangen, Violine zu lernen, allerdings mindestens zwei Stunden Übezeit pro Tag einkalkulieren und mit ausreichender Begabung gesegnet sein.)

In seiner Autobiografie zeichnet Spohr lebhafte Szenerien, in denen ein reisender Virtuose in Privat-Soiréen gemeinsam mit Liebhabern musiziert. Liebhaber-Veranstaltungen boten professionellen Musikern unverzichtbare Gelegenheiten, sich einer kulturell interessierten Bevölkerungsschicht vorzustellen. Das Auftreten in privaten Soiréen, Liebhaberkonzerten und die Bereitschaft zu gemeinsamen Musikabenden mit illustren Dilettanten dienten reisenden Virtuosen sowie ortsansässigen Künstlern oftmals als obligatorische Werbemaßnahme für ihre auf eigene Rechnung veranstalteten Konzerte.

 

„Dorthin war mein Ruf noch nicht gedrungen (gemeint ist Prag) und ich hatte deshalb anfangs mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Diese waren jedoch sogleich beseitigt als ich mit meiner Frau (die Harfenistin Dorette Spohr) in einer Soiree bei der Fürstin von Hohenzollern gespielt hatte und diese Dame sich darauf als unsere Beschützerin erklärte“8

 

Besondere Beachtung verdienen zuletzt zwei Musikjournale des 18. Jahrhunderts. Das erste Musikjournal, als Periodikum im Zeitraum von 1728 bis 1729 herausgegeben, erschien im telemannischen Eigenverlag. Bachs Hamburger Vorgänger und Patenonkel Georg Philipp Telemann nutzte das Potenzial der ihn umgebenden Liebhaberkultur geschickt wie kaum ein anderer. Etliche seiner im Eigenverlag publizierten Werke wurden von dilettantisch Musizierenden gekauft und erprobt (das lässt sich anhand der Subskribentenlisten eindeutig verifizieren). Alle vierzehn Tage veröffentlichte der Komponist im „getreuen Music-Meister“ jeweils 25 Lektionen.9 Das Journal war präzise auf den vielfältigen Bedarf für den privaten Zirkel abgestimmt. Stücke unterschiedlicher Gattungen für unterschiedliche Besetzungen wechselten sich in wohl proportioniertem Umfang von selten mehr als zwei Seiten ab. Die meisten Kompositionen stammten vom Herausgeber selbst, teilweise wurden auch Fremdwerke eingespeist. Es lohnt sich ein Blick auf Telemanns Selbstverständnis und Selbstdarstellung im öffentlichen Raum.

 

 

Abb. 3: G. Ph. Telemann (Ausschnitt). Kupferstich von Georg Lichtensteger (1700-1781), Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, http://diglib.hab.de/varia/portrait/a-21703/start.htm?image=000001
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Auf den wenigen (erhaltenen) Portraits, wie dem in Abb. 3, zeigt sich der Komponist in betont légèrer, bürgerlicher Manier mit offenem Hemd. Telemann repräsentiert den aufklärerisch geprägten Typus des Unternehmers, in seiner Autobiographie dichtet er:

 

„Lust und Fleiß kann Wege finden, ob sie auch so tief verschneit, […] Sieh die Schwierigkeit für Zwerge, dich für einen Riesen an“10

 

Der Emanzipationsgedanke des erstarkenden Bürgertums bietet die fruchtbare Grundlage für einen Lebensweg, wie Telemann ihn begeht: ohne familiären musikalischen Hintergrund – die verwitwete Mutter versucht im Gegenteil alles, um den musikbegeisterten Jugendlichen vom steinigen, unsicheren Weg des Musikers abzubringen – und auch ohne eine wirklich strukturierte musikalische Ausbildung arbeitet sich Telemann allein durch „Lust und Fleiß“ zu einem der erfolgreichsten Musikmenschen seiner Zeit empor. Sein Weg zum Künstler als Autodidakt nimmt die Idee des Originalgenies, Antagonist des Dilettanten, vorweg.

In Nachfolge des „getreuen Music-Meisters“, nach dem selben Prinzip gestaltet, erschien ab 1761 in Berlin bei Verleger Friedrich Wilhelm Birnstiel das „Musikalische Allerley“ gefolgt vom „Musikalischen Mancherley“ (1762-1763) und schließlich dem in Hamburg unter der Aufsicht von Carl Philipp Emanuel Bach 1770 kuratierten „Musikalischen Vielerley“. Diese Zeitschriften waren als wöchentlich erscheinende Musikjournale für das häusliche Musizieren konzipiert. Birnstiel schreibt in seinem Vorwort zur ersten Sammlung:

 

„Ich empfehle sie dem gütigen Beifall der Kenner und Liebhaber […]“11

 

Sowohl im getreuen Music-Meister als auch in den drei zuletzt genannten Musikjournalen finden sich zum Teil mehrsätzige Musikstücke, die über mehrere Ausgaben verteilt gedruckt wurden. Die Idee war also eine Abonnement-Leserschaft.

Der jüngere Bruder Carl Philipp Emanuel Bachs, Johann Christoph Friedrich, der sogenannte Bückeburger Bach, ereiferte sich ebenfalls für eine Liebhaber-Literatur im Rahmen der „musikalischen Nebenstunden“, 1787-1788 in vier Büchern veröffentlicht. Der Titel verweist auf die Art der Verwendung: Musik als Nebenwerk für Liebhaber in häuslicher Atmosphäre. In der Vorrede heißt es:

 

„Ob ich nun übrigens meinen Zweck, dem Geübtern sowohl, als dem Anfänger etwas zur Unterhaltung zu geben, erreicht habe? ist eine Frage, die ich völlig nach Vollendung eines ganzen Jahrgangs der Entscheidung des Publikums überlasse. Ich bescheide mir: nichts ist schwerer, als alles allen zu sein.“12

 

Abb, 4: J. C. F. Bach: Allegretto aus "Musikalische Nebenstunde" Band 1, Rinteln 1787
../../fileadmin/user upload/jcf bach Musikalische Nebenstunden 1 13

 

Liebhaberveranstaltungen

 

„Liebhaberconcert ist eine solche öffentlich veranstaltete Musik, die hauptsächlich von solchen Personen ausgeführt wird, welche die Tonkunst bloß zu ihrem Vergnügen und ohne sich dadurch Unterhalt zu verschaffen, treiben“13

 

Koch fasst in dieser Definition zwei konstituierende Aspekte der Dilettantismus-Definition um 1800 zusammen: Musik wird erstens zum Vergnügen und zweitens ohne damit verbundene Erwerbstätigkeit betrieben.

Johann Friedrich Reichhardt berichtet in seinen 1774 gedruckten „Briefen eines aufmerksamen Reisenden“ von großformatigen dilettantischen Aufführungen:

 

„Da komme ich nun eben von dem hiesigen Liebhaber-Concert und habe das Graunische Meisterstück, den Tod Jesu, in vielen Stücken sehr gut aufführen hören“14

Abb. 5: Carl Heinrich Graun: Passionskantate „Der Tod Jesu“, Digitale Sammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt
Halle (Saale), urn:nbn:de:gbv:3:1-653036-p0011-2
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Gemeint ist das 1770 im Corsicaschen Hause (Gasthaus Corsica) von Georg Benda, Georg Ludwig Bachmann und Friedrich Nicolai gegründete Liebhaber-Concert Berlin.15 Reichhardt verweist darauf, dass diese 15 Konzerte zum „Vergnügen und zugleich zur Übung der Musikliebhaber“16 stattfinden und deswegen Mängel in der Darbietung zu verzeihen seien. Er nennt damit wieder zwei wesentliche Aspekte des Dilettantismus: die sinnliche Erbauung, sowie Bildung durch Musizieren.

Bezeichnenderweise wird das Passionsoratorium Grauns auf einen Text des Aufklärungs-Dichters Karl-Wilhelm Ramler bereits bei der Uraufführung 1755 vermutlich hauptsächlich durch Dilettanten interpretiert, wie wir nebenstehendem Titeldruck des Textbuches entnehmen können.

Die „musikübende Gesellschaft“ wurde 1749 als eine der ersten ihrer Art unter anderen von Johann Philipp Sack als Liebhabervereinigung mit regelmäßigen Veranstaltungen gegründet.17

Dem Corsicaschen ähnliche Liebhaberconcerte gab es in etlichen deutschen Städten, 1757 bereits in Quedlinburg, in den 60er Jahren in Dresden und Zittau, später auch in München etc.18

Im 18. Jahrhundert gründeten sich unzählige musizierende Gesellschaften, die sich entweder aus Professionals und Liebhabern oder nur aus Liebhabern zusammensetzten. Es wurde zu Übungszwecken, zur Gemütserbauung, zur Musikerziehung oder zur Unterhaltung musiziert. Der buntscheckige Kosmos der musikübenden Gesellschaften stellt Voraussetzungen und Nährboden für die Entwicklung des öffentlichen Konzerts sowie für Konservatorien und Musikschulen.19 Verbindendes Merkmal der verschiedenen Vereinigungen ist das bürgerliche Milieu und der mehr oder weniger unprofessionelle Zugang zur Musik. Zu den Vorläufern musikübender Gesellschaften bzw. deren Zusammenkünften in Übungs- oder Liebhaberkonzerten zählen im deutschsprachigen Raum Lese- und Tischgesellschaften, bei denen häufig musiziert, teilweise sogar ganze Singspiele von Dilettanten aufgeführt wurden. In diesem Format diente die Musik wohl primär als „Lückenbüßer“, zur Unterhaltung zwischendurch.20 Lese- und Tischgesellschaften fungieren mehr als Vorbilder für den „Salon“ als für das Liebhaberkonzert. Johann Friedrich Reichhardt berichtet von seinem Besuch der Berliner Lese- und Tischgesellschaft „Odeon“:

 

„Bei der Tafel wurden frohe Lieder gesungen wozu ein eifriger Kunstfreund, der Senator Fritze, ein zweckmäßiges Liederbuch veranstaltete, welches jedes Mitglied neben seinem Teller liegen hat. Angenehme Damenstimmen […] singen die Lieder mit Klavierbegleitung“21

 

Unterhaltenden Charakter behielt die Musik teilweise in Liebhaber- mehr noch in Wirtshauskonzerten. Die AMZ berichtet um 1800 von Musikveranstaltungen „bey Kaffee und Tabak“ oder mit anschließendem Tanz.22

Dem gegenüber steht der erzieherische Aspekt musikübender Gesellschaften, deren Übungskonzerte bis zu 3 Stunden dauerten. Das selbstverständliche Nebeneinander von Professionals und Dilettanten gewährleistete einen qualitativen Mindeststandard und eine kompetente Unterweisung der Liebhaber. In einigen musikübenden Gesellschaften, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend vereinsmäßige Strukturen und Ordnung annahmen, gehörten Vorträge durch musikalische Fachleute regelmäßig zum Programm.23 Damit reihen sich musikübende Gesellschaften in die vielschichtige Vorgeschichte von Konservatorien und Musikschulen im deutschsprachigen Raum.

Auf die chaotischen Zustände der Musikausübung, wie sie in Wirtshäusern, Liebhaberkonzerten mit Unterhaltungscharakter (und auch an vielen Adelshäusern) oft anzutreffen waren, reagierten musikübende Gesellschaften vielerorts mit reglementierenden Statuten. Die AMZ druckt 1805 solche als vorbildlich geltende Paragraphen ab. Darunter finden sich auch diese Zeilen:

 

„§9 Während des Musizierens oder Gesangs muss die ganze Gesellschaft die größte Stille beobachten. §11 Zur Konversation und Unterhaltung stehen andere Zimmer bereit“24

 

Diese Art von Verhaltensbildung trägt erheblich zur Etablierung eines geübten, seriösen Publikums bei, das das Konzert als eigenständige Veranstaltung zur ausschließlichen Aufführung von Musik überhaupt erst ermöglicht. Damit dient die musikübende Gesellschaft einerseits dem Bedürfnis der Bevölkerung, musikalisch produktiv zu werden – so schreibt die AMZ 1800

 

„Gebt Dilettanten Gelegenheit, sich gemeinschaftlich, zweckmäßig und ohne Kostenaufwand zu üben!“25

 

und trifft damit den Nerv der Zeit des erwachenden Bürgertums, das vom „musikalischen Gut Besitz nimmt“26 – andererseits der Herausbildung eines verständigen, disziplinierten Publikums als rahmengebend für die Institution des Kunstkonzerts.

 

Der Begriff „Dilettant“, im 18. Jahrhundert noch überwiegend wertfreie Bezeichnung einer musikschaffenden, jedoch nicht durch Musik erwerbstätigen Person, nähert sich etwa ab 1800 der heute noch assoziierten Abwertung eines nicht-professionell Musizierenden an. Was im 18. Jahrhundert noch weitestgehend im Gesamtorganismus Musikkultur miteinander verwoben, spaltet sich im Laufe der Jahrhunderte mit Institutionalisierung und Professionalisierung des Konzertlebens in zunehmend voneinander getrennte Teilbereiche des Professionellen und des Dilettantentums. Das Musikleben des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist jedoch ohne die Anerkennung und Untersuchung einer florierenden Liebhaberkultur höchstens vage und kaum in seiner Vielfalt und Tiefe erkennbar.

 

 

Zur besseren Lesbarkeit verwendet dieser Text das generische Maskulinum, wobei sich sämtliche Personenbezeichnungen – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter beziehen.

 

Anmerkungen:

[1] Franz Grillparzer: Über Dilettantismus, zitiert nach: Projekt-Gutenberg, hrsg. von Hella Reuters, Hamburg, www.projekt-1 gutenberg. org/grillprz/aestheti/chap001.html (21.02.24).

[2] vgl. Uwe Wirth, „Der Dilettantismus-Begriff um 1800 im Spannungsfeld psychologischer und prozeduraler Argumentation“, in: Dilettantismus um 1800, hrsg. von Stephan Blechschmidt und Andrea Heinz, Ereignis Weimar – Jena, Bd. 16, Heidelberg 2007.

[3] Bernd Sponheuer: Art. „Kenner – Liebhaber – Dilettant“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 5, Kassel u.a., 1996, Sp. 31–37.

[4] Jahrbuch der Tonkunst in Wien und Prag, hrsg. im Schönfeldischen Verlag, Wien 1796.

[5] Carl Friedrich Cramer (Hg): Musik, Kopenhagen 1789.

[6] Johann Friedrich Reichhardt: Wiegenlieder für gute deutsche Mütter, Leipzig 1798, Vorrede.

[7] Louis Spohr: Violinschule, Wien 1821, Vorrede.

[8] Louis Spohr: Selbstbiographie, Kassel und Göttingen 1860, Bd. 1.

[9] Siegbert Rampe: Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Lilienthal: Laaber, 2017, S. 25.

[10] Georg Philipp Telemann: Lebenslauf mein Georg Philipp Telemanns; entworfen in Frankfurt am Main, in: Johann Mattheson: Große Generalbassschule, Hamburg 1731, in: Selbstbiographien deutscher Musiker des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Willi Kahl, Köln, Krefeld: Staufen Verlag, 1948, S. 217.

[11] Friedrich Wilhelm Birnstiel (hrsg.): Musikalisches Allerley, Berlin 1761, Nachricht.

[12] Johann Christoph Friedrich Bach: Musikalische Nebenstunden, Vorbericht.

[13] Heinrich Christoph Koch: Musikalisches Lexikon, Faksimile-Reprint der Ausgabe Frankfurt/Main. 1802, hrsg. von Nicole Schwind, Kassel: Bärenreiter, 2011, S. 901.

[14] Johann Friedrich Reichhardt: Briefe eines aufmerksam Reisenden die Musik betreffend, Erster Teil, Zweiter Brief, Frankfurt und Leipzig 1774, zitiert nach: imslp, imslp.org/wiki/ Briefe_eines_aufmerksamen_Reisenden_die_Musik_betreffend_
(Reichardt%2C_Johann_Friedrich) (3.3.24).

[15] Eberhard Preußner: Die bürgerliche Musikkultur. Ein Beitrag zur deutschen Geschichte des 18. Jahrhunderts, 2. Auflage, Kassel: Bärenreiter, 1950, S. 32.

[16] Johann Friedrich Reichhardt: Briefe eines aufmerksam Reisenden, Erster Teil, Zweiter Brief.

[17] Gudula Schütz: Art. „Johann Philipp Sack“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd.14, Kassel u.a., 2005, Sp. 773–774.

[18] Preußner: Die bürgerliche Musikkultur, S. 33.

[19] vgl. Preußner: Die bürgerliche Musikkultur, S. 38.

[20] Peter Gradenwitz: Literatur und Musik in geselligem Kreise, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1991, S. 39–41.

[21] Reichhardt, Wien II, S. 307, zitiert nach: Preußner: Die bürgerliche Musikkultur, S. 35.

[22] Gradenwitz: Literatur und Musik in geselligem Kreise, S. 41.

[23] Preußner: Die bürgerliche Musikkultur, S. 37.

[24] AMZ, 1805.

[25] AMZ, 1800, zitiert nach: Preußner: Die bürgerliche Musikkultur, S. 37.

[26] Preußner: Die bürgerliche Musikkultur, S. 37.

 

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Über den Autor / die Autorin
Anna Kaiser , Anna Kaiser studierte Schulmusik und(...)