Parallel zu der von Heinrich Schumann gepflegten Tradition des Bambus-Blockflötenbaus existierte in Deutschland jedoch auch eine Bewegung, die von Margaret James und ihrem Flötentyp (6+1 Grifflöcher) beeinflusst war. Sie ging von der Rhythmikerin und Eutonie-Lehrerin Charlotte Blensdorf-MacJannet (1901–1999) aus.31 In ihrer Schrift „Kinder machen Bambusflöten und lernen horchen und musizieren“32 propagierte sie den englischen Bambusflöten-Typus mit 6+1 Grifflöchern und verband diesen in ihrer Arbeit mit den Inhalten der Rhythmik. Dadurch wurde ihre Kollegin Trudi Biedermann angeregt, in der Schweiz ebenfalls eine Bambusflöten-Gilde zu gründen. Spätestens nach dem Krieg entwickelte sich hier die Tendenz, die Bambusflöten mit 6+1 Grifflöchern um ein Kleinfingerloch zu erweitern. Diese Anpassung an die Bauweise der Blockflöte ist wohl durch deren große Verbreitung zu erklären, vielleicht aber auch durch Zusammenarbeit mit den Kreisen um Heinrich Schumann. Ein Repertoire, das von der Blockflötenliteratur unabhängig ist, hat die frühe deutsche Bambusflöten-Bautradition jedoch nicht hervorgebracht. Dagegen hat Bernard Reichel (1901–1992) schon von 1941 an Bambusflöten-Kompositionen für die Schweizer Gilde verfasst (www.bernardreichel.ch).
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Die hier vorgestellte Bambusflöten-Musik stellt eine stilistisch interessante Erweiterung des Blockflötenrepertoires dar. Da sie spieltechnisch unterschiedliche Schwierigkeitsgrade aufweist, könnte sie eine eigenständige Sequenz im Blockflötenrepertoire bilden, wie z. B. die Csakan- und die Flageolett-Literatur. Allerdings steht dem entgegen, dass mehrere der genannten Werke derzeit vergriffen sind. Bei Interesse muss deshalb auf Exemplare aus dem Kollegenkreis oder aus Bibliotheken zurückgegriffen werden.
Weitere Informationen über die aktiven Bambusflötengilden verschiedener Länder sind auf folgenden Webseiten zu finden:
Deutschland: www.bambusfloetengil.de
Frankreich:
www.flutes-de-bambou.com
Großbritannien: www.pipersguild.org
Italien:
www.flautidibambu.it
Niederlande: www.bamboefluiten.nl
Österreich: www.Bambusfloetengilde.at
Schweiz: www.bambusfloete.ch
USA: www.americanpipersguild.org
Anmerkungen:
1 Ilse Mülckert: Bau und Spiel der Bambusflöte; Werkbogen J 3 der Werkgemeinde, Kassel o. J. [um 1955?], S. [1].
2 Margaret James: The Pipers’ Guild Handbook; London 1932, Nachdruck der revidierten Ausgabe London 1947: London 2013, S. 37.
3 z. B. bei Charlotte Blensdorf: Kinder machen Bambusflöten und lernen horchen und musizieren; Bad Godesberg 1932, S. 17f.
4 Preface, in: Piper’s Music by Arthur Benjamin, Peggy Glanville Hicks, Esther Rofe, John Tallis; Paris 1934.
5 Margaret James, S. [2].
6 Margaret James, S. 3.
7 Im Bezug auf das Daumenloch sind ältere Ausführungen zu korrigieren, z. B. bei Peter Thalheimer: Die Blockflöte in Deutschland 1920–1945. Instrumentenbau und Aspekte zur Spielpraxis; Tutzing 2010 (Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft, Band 32), S. 114.
8 Vgl. dazu: Hermann A. Moeck: Typen europäischer Blockflöten in Vorzeit, Geschichte und Volksüberlieferung. Ausführlicher Bericht zum Referat auf der 2. Internationalen Arbeitstagung für die Erforschung der Volksmusikinstrumente Europas in Brünn; Celle 1967, S. 34 und Abbildung 60.
9 Margaret James, S. 38.
10 Zitiert nach www.pipersguild.org (29.01.2021)
11 Die beiden Titel waren wohl Bestandteil von Sammelbänden, sind aber als einzelne Blätter überliefert. Leider konnten keine kompletten Hefte mit den Plattennummern 13801 und 14063 des Verlags J. B. Cramer & Co. Ltd. aufgefunden werden.
12 Ralph Vaughan Williams: Suite for Pipes; London, Oxford University Press 1947.
13 Edgar Hunt: The Recorder and its Music; London (11962) 21964, S. 140.
14 Später änderte sich das, vgl. Anne Martin: Musician for a While. A Biography of Walter Bergmann; Hebden Bridge 2002, S. 58.
15 Madeleine Gueritte: The Pipes in France; in: Piper’s Music by Arthur Benjamin, Peggy Glanville Hicks, Esther Rofe, John Tallis; Paris 1934.
16 Bei Deborah Hayes: Peggy Glanville-Hicks. A Bio-Bibliograpgy; New York, Westport, CT, London 1990, S. 38, als W11 gelistet.
17 Die zweite Stimme ist im Druck für „Alto B“ bestimmt, was in deutscher Terminologie einem Instrument mit Sechsfingergriff h1 entspricht. Auf einer solchen Flöte läge die Partie jedoch sehr schlecht. Vermutlich ist ein Instrument in a1 gemeint.
18 Der Begriff „Pipeau“ wurde allerdings später auch für eine Metall-Sechsloch-Blockflöte (ohne Daumenloch) mit tiefstem Ton c2 verwendet, vgl. Alain Michel: Méthode complète de pipeau; Nantes: Editions Musicales Sud o. J. [ca. 1950].
19 Das Stück steht allerdings in G-Dur. Die Tonartenangabe bezieht sich also nicht auf das Stück, sondern auf die Stimmung der Pipe.
20 Die Pipeau-Stimme ist zwar auf einem Instrument in d2 spielbar, liegt aber besser auf einem Pipeau mit Sechsfingergriff c2.
21 Bei diesem Stück sind die beiden Pipeaux transponierend in D notiert.
22 Der Titel über dem Beginn der Partitur lautet „3 Mélodies pour pipeau“, abgedruckt ist jedoch nur das erste Stück. Es wäre möglich, dass die beiden fehlenden Stücke in die „5 Melodien für Flauto dolce und Piano (1959)“ integriert wurden, die 1960 im Moeck-Verlag Celle erschienen sind. Ohne Änderung ist daraus allerdings nur die 3. Melodie auf dem Pipeau in d2 spielbar.
23 Vgl. Sechslochflöten ohne Daumenloch; in: Peter Thalheimer: Vergessen und wieder entdeckt: Die Blockflöte. 200 Instrumente der Jahre 1926 bis 1945 aus vogtländischen Werkstätten; Markneukirchen 2013, S. 34–44.
24 Heinrich Schumann: Die Bambusflöte. Anleitung zur Herstellung verschiedener Flötentypen (Bausteine für Musikerziehung und Musikpflege, hrsg. von Fritz Jöde, Schriftenreihe B7); Mainz 1952, S. 5.
25 Vgl. Peter Thalheimer (2010), S. 50–60.
26 Vgl. Peter Thalheimer (2010), S. 61–62.
27 Heinrich Schumann, S. 28.
28 Heinrich Schumann, S. 23 und S. 30.
29 Ilse Mülckert, S. 2–3.
30 Christoff Schellenberger: Vielerlei Flöten und Pfeifen; Werkbogen J 4 der Werkgemeinde; Kassel o. J. [um 1955?].
31 Gildenbrief Nr. 35, Oktober 2012, Bambusflötengilde in Deutschland e. V.
32 Charlotte Blensdorf, Bad Godesberg 1932.
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