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„Allem voran reizt mich Neues“ Karl Kaiser im Gespräch mit der Flötistin und Forscherin Anne Pustlauk Porträts

 

Anne Pustlauk studierte Flöte an der Musikhochschule Karlsruhe bei Renate Greiss-Armin. Danach studierte sie am Konservatorium Brüssel Traversflöte bei Barthold Kuijken. Hier entdeckte sie für sich die Flöten mit mehreren Klappen des frühen 19. Jahrhunderts. Ihre Forschungen zu diesen Instrumenten und ihrem Repertoire führten zu einem Doktorat von 2011 bis 2016 (The simple system flute between 1790 and 1850, its performance practice and chamber music repertoire with pianoforte and/or strings). Ergebnisse dieser Arbeit kann man systematisiert auf der Homepage von Anne Pustlauk finden. Von November 2017 bis Juli 2018 arbeitete sie am Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin zum Thema Berliner/Potsdamer Flötenwerkstätten zwischen 1772 und ca. 1840. Die Flötistin Anne Pustlauk spielt gleichermaßen als Solistin, Kammermusikerin und im Orchester.

Karl Kaiser unterhielt sich mit ihr über die Ergebnisse ihrer musikalischen und wissenschaftlichen Recherchen.

 

Karl Kaiser: Liebe Anne, du hast dich seit Jahren sehr stark mit der Flöte mit mehreren Klappen beschäftigt, über die Instrumente und deren Repertoire promoviert und weitere Forschungen unternommen. Wie kam es dazu?

 

Anne Pustlauk: Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich im letzten Jahr meines Traversflötenstudiums begonnen, die Mehrklappenflöte zu spielen. In dieser Zeit wurde mir bewusst, dass ein Jahr nicht ausreicht, um diese Flöte von Grund auf kennenzulernen. Außerdem bin ich relativ schnell auf das Problem gestoßen, dass ich eigentlich keine Ahnung hatte, welche Stücke ich spielen sollte. Es musste doch mehr geben als Kuhlau, Hummel und Schubert. Also begab ich mich auf die Suche. Dass diese Suche schließlich solche Ausmaße annehmen würde, damit hätte ich damals sicherlich nicht gerechnet.

 

Als Traversflötist*in beschäftigte man sich in den letzten Jahrzehnten ja vor allem mit Musik, deren Aufführungstradition durch spätere ästhetische Vorstellungen sehr stark verändert wurde. Was hat dich gereizt, dich mit Instrumenten und Musik zu beschäftigen, für die barocke Parameter nur noch bedingt gelten?

 

Allem voran reizt mich Neues. Die Mehrklappenflöte und ihre Musik waren für mich wie ein weißer Fleck auf einer Landkarte, den es zu entdecken galt. Diese unglaubliche Vielfalt an Flöten aus den verschiedensten Materialien, mit den verschiedensten Klappen, ist doch einmalig! Flöten mit extrem großen, andere mit sehr kleinen Tonlöchern, mit viereckigen, ovalen oder kreisrunden Mundlöchern, gespielt von Flötisten, deren Klang einer Orgel oder einer zwitschernden Schwalbe glich. Die Vielfalt spiegelt sich auch in Methoden aus der Zeit wider. Es ist äußerst interessant, wie unterschiedlich Flötisten Klang, Artikulation, Phrasierung oder Ornamentation beschreiben. Ich denke da an die fast gegensätzliche Klangvorstellung von Hugot/Wunderlich und Berbiguier oder die unterschiedliche Ausführung der Doppelzunge von Nicholson und Drouët. Besonders interessant finde ich Beschreibungen von Tempo rubato, eine Flexibilität in der Musik, die damals ein essenzieller Bestandteil der Aufführungspraxis war, heute aber kaum noch eine Rolle spielt. Es kostete mich zu Beginn einige Überwindung, einzelne Noten länger auszuhalten oder Melodien langsamer oder schneller zu spielen als die Begleitung, da mir von klein auf beigebracht wurde, den Wert der Noten so auszuführen, wie er notiert ist. Heute möchte ich diese Freiheit nicht mehr missen.

 

Du sprichst die Verschiedenheit der Instrumente, der Klangvorstellung, der Artikulation und dann auch die für die romantische Spielweise so typischen Tempomodifikationen und das asynchrone Spiel an. Beginnen wir bei den Instrumenten: im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden an der Flöte nach und nach zusätzliche Klappen zur Egalisierung der Töne angebracht. Die einklappige Barockflöte mit ihrer „sympathischen” Tonartencharakteristik galt mehr und mehr als Mangelinstrument. Sind die Klappen ein Schritt in Richtung Böhmflöte? Sind sie eine Vereinheitlichung oder ein Zugewinn?

 

Die Klappen sind ein Minischritt in Richtung Böhmflöte, so wie wir sie heute kennen. Aber genau genommen sind wir noch meilenweit davon entfernt. Zunächst waren die Klappen nur für die Verbesserung der sogenannten schwachen Töne B, Gis und F in der ersten Oktave gedacht, also für die Töne, die nicht auf der D-Skala der Traversflöte lagen und mit Gabelgriffen gespielt werden mussten. An den Gabelgriffen der zweiten und dritten Oktave hatte damals niemand etwas auszusetzen. Und auch im 19. Jahrhundert wurden Gabelgriffe noch häufig verwendet, da sie einerseits in bestimmten Situationen einfacher zu greifen waren als Klappengriffe und weil sie andererseits zu der reichen Klangfarbenpalette beitrugen. Verschiedene Klangfarben, die durch verschiedene Griffe erzeugt wurden, waren ein großes Thema im 19. Jahrhundert. Manche Grifftabellen aus dieser Zeit zeigen für ein und denselben Ton bis zu 14 verschiedene Griffe an. Von Vereinheitlichung kann hier also nicht die Rede sein, ganz im Gegenteil. Und dann war da auf der anderen Seite Theobald Böhm, der anscheinend ein völlig anderes Konzept verfolgte. In seiner Grifftabelle für die Mehrklappenflöte von 1830 besitzen lediglich drei Töne einen Alternativgriff. Er strebte also bereits in dieser Zeit nach einer Egalität des Klanges, die es so gar nicht gab.

 

Du beschreibst die große klangliche Vielfalt, die durch die Klappen erheblich angereichert wird. Die alten Griffe plus die Klappen machen die klassisch-romantische Flöte zu einem sehr farbigen Instrument. Spiegelt sich diese Vielfalt auch in verschiedenartigem Umgang mit der Klappenflöte in den großen Musikzentren Wien, Paris, London, Dresden wider? Gibt es da generelle Tendenzen?

 

Da stellst du eine Frage zu einem ziemlich komplexen Thema. Der Umgang mit der Klappenflöte muss sehr vielfältig gewesen sein, das zeigt allein schon die große Vielfalt der Instrumente. Meiner Meinung nach ist diese Vielfalt aber nicht an Musikzentren gebunden, sondern eher an Personen. Natürlich fallen einem zu London sofort Charles Nicholson und die mit ihm verbundene sogenannte englische Flöte mit ihren großen Tonlöchern ein. Dass aber in London weitaus mehr Flöten mit kleinen Tonlöchern produziert wurden, muss doch bedeuten, dass nicht alle so spielten wie er. Auch die vielen in London erschienenen Flötenmethoden zeigen, dass die Spielweise sehr individuell war. In den anderen Musikzentren lassen sich diese Unterschiede ebenfalls finden, wenn auch nicht immer so deutlich wie in London. Bei aller Individualität gibt es hier und dort aber immer wieder Gemeinsamkeiten, die man auf den ersten Blick vielleicht nicht vermuten würde. Ein schönes Beispiel hierfür sind die „Harmonics“, „Sons harmoniques“ oder „gedeckten Töne“, also Töne der zweiten und dritten Oktave, die mit möglichst vielen geschlossenen Tonlöchern erzeugt werden. Diese spezielle Klangfarbe beschreiben Nicholson, Berbiguier und Fürstenau jeweils in ihren Methoden.

 

Würdest du also aufgrund deiner umfangreichen Recherchen sagen, dass die bis heute wirksamen Vorstellungen von nationalen Klang- und Spieltraditionen als pauschalierend angesehen werden müssen? Und dann noch: gibt es eventuell eine über lange Zeiträume reichende Tradition von zentralen Figuren der Flötengeschichte? Ich denke etwa an Quantz, Devienne, Tulou, Fürstenau. Und wie äußert sich das?

 

Ich bin davon überzeugt, dass Kultur damals so vielschichtig war wie heute. Natürlich gibt es herausragende Persönlichkeiten, die Trends setzen und die bis zu einem gewissen Maße Generationen beeinflussen, aber kann man deshalb schon von einem nationalen Stil sprechen? Spielte man in München so wie Quantz in Berlin? Dasselbe gilt für Traditionen. Deviennes Ansichten zum Flötenspiel etwa waren schon kurz nach Erscheinen seiner Methode umstritten. Seine Meinung über die Doppelzunge wurde von seinen Nachfolgern genauso wenig geteilt wie die über Klappen. Tulou haben wir zu verdanken, dass die Böhmflöte erst nach dessen Pensionierung im Pariser Conservatoire eingeführt wurde, aber das heißt nicht, dass auch außerhalb des Conservatoire die Klappenflöte den Ton angab. In Sachsen wiederum war die Klappenflöte in den Orchestern für lange Zeit der einzig akzeptierte Flötentyp. Hier könnte man von einer Tradition sprechen, andererseits wandelte sich auch dort die Spielweise im Laufe der Zeit. Mit dem Traditionsbegriff wäre ich also äußerst vorsichtig.

 

Wie ist es in diesem Punkt mit der Flötenbautradition? Gab es die typische französische Klappenflöte, die Wiener Flöte, die sächsische Flöte usw.? Sind Merkmale wie Anzahl der Klappen, Länge des Flötenfußes, Tonlochform usw. verknüpft mit bestimmten ästhetischen Vorstellungen, die lokalen Bedingungen folgen?

 

Beim Flötenbau kann man in der Tat von Traditionen sprechen. Hier sind die Verhältnisse etwas konservativer als bei Musikern. Werkstätten blieben durch Vererbung oder Heirat über Jahrzehnte in der Hand einer Familiendynastie, das Handwerk und eine eigene Ästhetik wurde von Generation zu Generation weitergereicht. Details wie das Design der Klappen oder der Böcke können oft bestimmten Werkstätten oder zumindest Regionen zugeordnet werden. Was die Anzahl der Klappen betrifft, so gab es wohl verschiedene Vorlieben. Englische Flöten besitzen sehr häufig einen C-Fuß und insgesamt sechs oder acht Klappen. Mit so wenig Klappen hätten sich viele Österreicher wahrscheinlich nicht zufriedengegeben. Hier mussten mindestens noch Trillerklappen, doppelte Klappen und ein H-Fuß her. Aus Wien ist auch das Panaulon bekannt, eine Flöte, die bis zum tiefen G reicht. Solche Instrumente findet man außerhalb Wiens höchst selten. Man kann also von einer typischen Wiener Flöte sprechen, genauso wie Flöten mit großen Tonlöchern fast ausschließlich in England vorkommen und also typisch englisch sind. Trotz dieser lokalen Besonderheiten war die Palette der angebotenen Flöten meistens sehr groß. Oft bestimmte der Geldbeutel das Material der Flöte, die Anzahl der Klappen oder die Länge des Fußes.

 

Bei der Frage der Klangvorstellung und der Spielweise hat also eher eine fruchtbare Vielfalt geherrscht. Beim Instrumentenbau dagegen gab es regional deutlich differenzierte Traditionen. In der „historisch informierten”; Welt gilt heute sehr häufig die These, dass man Musik aus einem bestimmten historischen und regionalen Umfeld wegen der Klangästhetik adäquat letztlich nur auf damit „verlinkten”; Instrumenten wiedergeben kann. Besteht da ein Widerspruch? Wie ist deine Meinung dazu im Hinblick auf deine Forschungsergebnisse?

 

Einen Widerspruch sehe ich dort nicht. Wie wir gesehen haben, ist Klangästhetik nicht so monoton, wie man es vielleicht gerne hätte. Trotzdem bewegt sie sich oft in einem bestimmten Rahmen. Berbiguier hatte sicherlich nicht Nicholsons Klang im Ohr, als er in seiner Methode den kleinen französischen Klang beklagte. Seine Werke auf einer englischen Flöte mit großen Löchern zu spielen, wäre daher auch unpassend. Auf der anderen Seite wird es im 19. Jahrhundert immer schwieriger, ein Werk in ein bestimmtes historisches und regionales Umfeld einzuordnen, da Musiker und Waren wie Noten oder Instrumente nicht mehr so stark an einen Ort gebunden waren wie im 18. Jahrhundert. Sehen wir uns zum Beispiel Kuhlau an. Ein deutscher Pianist, der mit 24 Jahren nach Kopenhagen flüchtet und dort bis zu seinem Lebensende bleibt, lässt seine Werke in Dänemark, Deutschland, später auch in Frankreich und England drucken. Welche Klangästhetik ist nun die adäquateste? Einige Werke widmete er Flötisten, hier wäre es naheliegend, die Sonate auf deren Instrumententyp zu spielen. Andere Werke ließ er in Kopenhagen aufführen, bevor er sie in den Druck schickte. In diesem Fall wäre wohl eine dänische Flöte geeignet. Nun besitzt heutzutage nicht jeder eine perfekt restaurierte dänische Flöte mit passendem Stimmton, meistens ist diese Option also nicht möglich. In diesem Falle wäre es absolut vertretbar, eine andere Flöte, die in den Rahmen Kuhlaus passt, zu verwenden. Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang, dass die Wahl des Instruments nur ein Teilaspekt ist. Genauso wichtig ist die Frage der Ausführung. Spiele ich also Kuhlau auf einer französischen Flöte, würde ich auch die Spielweise berücksichtigen, die in französischen Quellen aus der Zeit beschrieben wird.

 

Ich höre in deiner Antwort einerseits, dass es für eine lebendige Interpretation letztlich mehr auf den Ausführenden ankommt und ankam. Wenn ich es richtig verstanden habe, empfindest du die Wahl des Instrumentes aber doch auch als ganz entscheidend?

 

Ja, absolut. Instrument und Spielweise sind miteinander verbunden, das wird nicht nur deutlich, wenn es um ganz grundsätzliche Aspekte wie Klangbildung, Artikulation und Griffe, sondern auch, wenn es um die künstlerischen Aspekte wie zum Beispiel Ornamentation, Artikulation und Klangmalerei geht. Darum gehört für mich die Wahl des passenden Instrumentes einfach dazu. Das Schöne ist ja, dass wir heute die Wahl haben. Bei dieser ungemeinen Vielfalt an Flöten wäre es doch zu schade, wenn wir uns auf ein oder zwei Modelle beschränken würden!

 

Das Repertoire im 19. Jahrhundert nähert sich zunehmend einer Überschneidung zwischen moderner Flöte und historischen Flöten an. Die Tendenz ist nicht zu überhören, dass sehr gute moderne Orchester stilistisch die Klangergebnisse von Orchestern mit alten Instrumenten zur Kenntnis genommen haben und in ihr Spiel integrieren. Da ist es natürlich sehr interessant zu hören, was in den historischen Quellen ganz anders beschrieben wird, als es heute im modernen Flötenspiel auch bei kritischer Selbstreflexion üblich ist. Vielleicht zuerst die Frage nach Vibrato und Artikulation.

 

Zwei sehr umfangreiche Themen, die ich hier nur kurz skizzieren werde. (Wer mehr darüber wissen möchte, findet ausführlichere Informationen auf meiner Website und hoffentlich bald in meinem Buch über die Mehrklappenflöte.) Das Vibrato gehörte auch im 19. Jahrhundert zur Kategorie der Verzierungen, rückte aber im Laufe des Jahrhunderts mehr und mehr in Richtung des Ausdrucks. Es wurde also, anders als ein Triller oder Doppelschlag, nur im Moment eines wahren Gefühlsausbruches erzeugt, aber bitte auch nicht zu oft. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschied man noch zwischen Finger- und Atemvibrato. Häufigkeit, Art und Ausführung des Vibratos hingen vom jeweiligen Land sowie vom Zeitraum ab. Erwähnenswert hierbei ist, dass Vibrato in keiner einzigen französischen und italienischen Flötenmethode für die Mehrklappenflöte erwähnt wird. Artikulation war ein äußerst wichtiges Thema, über das selbst Konzertkritiker berichteten. Drei Aspekte standen hierbei im Mittelpunkt: die Ansprache, der Wechsel von gestoßenen und gebundenen Noten sowie die Doppelzunge. Die Ansprache war äußerst mannigfaltig. Sie reichte vom harten „T“ bis hin zum gehauchten „H“. Dazwischen gab es alle möglichen Nuancen. Der Wechsel von gestoßenen und gebundenen Noten lag in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts oft in den Händen des Ausführenden. Passagen, in denen der Komponist keine Artikulation andeutete, wurden nicht etwa gestoßen, sie lieferten dem Flötisten die Gelegenheit, seinen guten Geschmack zu präsentieren. Wahrscheinlich ist dies auch ein Grund für die zahlreichen Beispiele in damaligen Flötenmethoden. Die Doppelzunge schließlich war ein Thema, über das oft Uneinigkeit herrschte. Einige lehnten sie ganz ab, andere schworen auf Deureu, Tootle, Tika oder Dougue. Die Wahl der Doppelzunge hing einerseits vom Instrument, andererseits von der persönlichen Vorliebe ab.

 

Du hattest zu Anfang das wichtige Thema Tempo rubato angesprochen. Im Internet werden zunehmend alte Tonaufnahmen mit Musikern der Liszt-Enkel-Generation zugänglich. Man kann erstaunliche Differenzen zum heutigen Spiel in puncto Timing-Freiheiten wahrnehmen. Wird in den Flötenschulen und Methoden des 19. Jahrhunderts ganz generell ein anderer Umgang mit diesem Thema gelehrt als es im „modernen“ Spiel üblich ist?

 

Leider erwähnen nur wenige Flötenmethoden Tempo rubato, da die meisten lediglich Basiswissen vermitteln und es sich hierbei um die hohe Kunst des Flötenspiels handelt. Anhand der wenigen Erwähnungen aber, die wir haben, wird deutlich, dass es verschiedene Formen gab, wie zum Beispiel das längere Anhalten einer Note, das Beschleunigen einer Phrase oder das "Überholen" der Begleitung. All diese Formen, die zu verschiedenen Zeiten und Orten in Erscheinung traten, würden in der heutigen Musizierpraxis wahrscheinlich als No-Go gelten. Übrigens lehnten auch damals einige Flötisten das Tempo rubato ab, wie zum Beispiel Drouët. Allerdings muss das nicht bedeuten, dass Drouët ganz metronomisch spielte. Neben dem Tempo rubato gab es den musikalischen Akzent, der heute auch nicht mehr berücksichtigt wird, damals aber die Basis jedes Spielens war. Auch hier bekommen bestimmte Noten einen Nachdruck oder sogar mehr Zeit, als der Wert es vorschreibt.

 

Noch eine Frage nach der Stimmtonhöhe. Heute wird ja in den Orchestern mit „Originalinstrumenten" für Musik des frühen 19. Jahrhunderts meist die Stimmtonhöhe a1= 430 Hz gewählt, manchmal auch a1= 438 oder 440 Hz. Wie siehst du das im Zusammenhang mit deiner Kenntnis so vieler originaler Flöten der Zeit?

 

Damals war die Spanne der Stimmtonhöhe extrem groß, zwischen 415 Hz und 455 Hz ist alles zu finden. Flöten in 430 Hz sind auch darunter, allerdings ist ihre Anzahl verhältnismäßig gering. Sehr oft liegt der Stimmton um mindestens 5 Hz höher, und in manchen wichtigen Städten wie Wien war er sogar noch viel höher. Durch die hohe Stimmung klingen die Instrumente viel brillanter. Trotzdem spielen wir Beethoven oder Haydn meistens in 430 Hz, weil es eben Standard geworden ist. Und wenn sich ein Orchester dazu entscheidet, in 440 Hz zu spielen, müssen wir Bläser oft viel spätere Instrumente verwenden, weil wir nicht mit den zeitlich korrekten Instrumenten in der hohen Stimmung ausgestattet sind. Um der historischen Aufführungspraxis gerecht zu werden, müsste sich also einiges ändern. Das beginnt zunächst bei uns, indem wir uns und unseren Kollegen die historischen Gegebenheiten und deren klangliche Konsequenzen bewusst machen. Vielleicht sollten wir uns auch von den Standard 430 Hz verabschieden und etwas flexibler werden. Schließlich ist es den Virtuosen von damals doch auch gelungen.

 

Letzte Frage: Welche Typen von klassisch-romantischen Flöten magst du am liebsten?

 

Einen spezifischen Lieblingstyp habe ich nicht, aber im Laufe meiner Forschungen sind mir einige Instrumente begegnet, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Dazu gehören zum Beispiel die Mehrklappenflöten von Theobald Böhm. Sie haben alles, was sich ein Flötist nur wünschen kann, ergonomische Klappen, eine hervorragende Intonation und einen schönen Klang. Flöten von Tebaldo Monzani finde ich toll, weil er sich als einer der ersten viele Gedanken über die Ergonomie der Klappen machte. In Stockholm liegt eine Flöte von Grießling & Schlott, deren Holzböcke wunderschön gearbeitet sind und die sicherlich genauso schön klang. Ich könnte noch einige solcher Flöten aufzählen. Wenn ich aber eine zum Spielen wählen müsste, so würde ich wahrscheinlich eine Flöte wählen, auf der ich zu Hause bin.

 

Liebe Anne, vielen Dank für dieses spannende Gespräch und alles Gute für dich, deine Musik und deine Forschungen. Auf das Buch über die Klappenflöten bin ich sehr gespannt!

 

 

 

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Karl Kaiser ,