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„Aber das ruiniert doch den Kontrapunkt!“ Zur Frage von notierter und klingender Tonhöhe bei Renaissancetraversflöten im polyphonen Satz Fachartikel

 

In welcher Oktave oder Lage man auf dem Renaissancetraverso eigentlich spielen solle, besonders in gemischten Ensembles mit verschiedenartigen Instrumenten, ist eine zentrale Frage, die mir beim Unterrichten und in der Praxis als Musikerin immer wieder begegnet.1 Besonders betrifft das die Situationen, in denen der Traverso eine Mittelstimme in einem polyphonen Satz spielt und dabei eine Oktave höher als notiert klingt: Was für (erfahrene) Renaissanceflötistinnen und -flötisten eine selbstverständliche Praxis ist, löst bei Mitmusizierenden und Dozierenden ein breites Spektrum von Reaktionen aus – von Erstaunen und Faszination über den resultierenden Ensembleklang bis hin zu ungläubiger Perplexität und kategorischer Ablehnung. Wenn ein Traverso beispielsweise den Tenor spielt, in einer für dieses Instrument möglichen Lage – also anstatt in der richtigen Oktave eine Oktave höher – ruiniert das im Zusammenspiel nicht den Kontrapunkt? Im Grunde genommen: Ja, das tut es! Befasst man sich jedoch mit historischen Instrumentierungsangaben, Ikonographie und Quellenlage zu dieser Problematik, wird klar, dass es sich im 16. und 17. Jahrhundert um eine gängige Praxis gehandelt hat. Dieser Artikel soll helfen, diese klarer zu umreißen, ihre klangliche Ästhetik zu verstehen und daraus Konsequenzen für eine heutige Ensemblepraxis aufzuzeigen. Die Themenbereiche von Stimmtonhöhe und Transposition behandle ich hier nicht, da diese Problematik bereits andernorts diskutiert wurde.2

 

Eine bemerkenswerte Äußerung zum Thema der Oktaven bei Traversflöten, die sich in seinem zweiten Band des Syntagma Musicum3 findet, stammt von Michael Praetorius (1571–1621) – bemerkenswert insofern, als dass sie eine bewusste Problematisierung der Oktaven bei den Querflöten darstellt. Zwischen den Ambitustabellen für Block- und Querflöten schreibt er:

 

Diese Flötte/ so wol auch die Querpfeiffe in diesem Thon/ kan nicht allein zum Diskant, wie ich es allhier eingesetzet/ sondern auch zum Tenor ein Oktav drunter/ gebraucht werden. Wie es dann in gemein von etlichen Instrumentisten dafür gehalten wird/ dass dieser Art Plock= und Querflötten/ ein rechter Tenor am Laut und Sono sey: und derselben unterster Clavis den Clavem c oder d im Tenor und also ihren Laut auff vier Fueß Thon (nach Orgelmacher Mensur,) von sich gebe. Und die Warheit zubekennen/ bin ich anfangs auch/ weil es gar schwehr im Gehör zuerkennen/ und zuunterscheiden/ derselben meynung gewesen: Aber wenn man diesen Thon gegen der Orgelpfeiffen Thon intonieren lest/ und eins gegen das ander im vleissigen Gehör eigentlich in acht nimpt/ so ist es nur ein rechter Diskant, da der Clavis c’ oder d’ am Laut zwey Fueß Thon ist. Und gleicher gestalt verhelt sichs auch mit den Baß= und andern Flötten/ so zu eim solchen Accort oder Stimmwerck gehören […]4

 

Interessant ist, wie Praetorius den Höreindruck und den Gebrauch der Instrumente zueinander in Bezug setzt. Er beschreibt, dass dieser subjektive Höreindruck Block- oder Traversflöten als „echten“ Tenor wahrzunehmen, falsch ist und die Flöten eigentlich in Diskantlage klingen. Trotz dieser Diskrepanz sieht er diese Instrumente aber als mögliche Besetzung für eine Tenorstimme an. Der Eindruck, sie würden eine Oktave tiefer klingen, scheint eine verbreitete Wahrnehmung gewesen zu sein.


Praetorius ist auch der erste, der den Umfang der Traversflöte in den wirklichen Oktaven angibt – bei der Tenor- und Altgröße von d 1–d 3 (wobei Geübte auch Töne bis a 3 erzeugen können), beim Bass ab g und beim Diskantinstrument von a 1–a 3.

 

Abb. 1: Ambitus des Traverso, Syntagma Musicum II, 1619.⁵
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Nach Praetorius gibt übrigens auch Marin Mersenne in seiner Harmonie universelle von 16366 in der zweiten Grifftabelle für den Traverso den Ambitus von d 1 bis g 3 klingend an. Allerdings gibt es in dessen Beschreibung des Traverso mehrere Unschärfen und Widersprüche, sodass diese Quelle mehr Fragen als Antworten aufwirft – seine Aussagen müssen also mit Vorsicht behandelt werden.

Abb. 2: Mersennes zweite Grifftabelle für den Traverso, Harmonie universelle, 1636.⁷
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In seiner Air de Cour pour les Flustes d’Allemand, Sus, sus, la bergère von Pierre Guédron (1570–1620), gibt er die Stimmen zwar in hoher Schlüsselung (G2, C2, C3, F3) an, diese würden aber immer noch den Ambitus der Flöte unterschreiten. Philippe Allain-Dupré hat überzeugend dargelegt, dass diese Air wohl nicht wie notiert musiziert wurde, sondern eine Oktave höher. Er zieht zudem eine wichtige Parallele zu Jakob van Eycks Version im Fluyten Lust-Hof, die aufgrund der Instrumentenangaben im Vorwort klar darauf schließen lassen, dass das Stück in Vierfuß- und nicht in Achtfußlage gespielt wurde.

 

Insgesamt scheint sich Mersenne also des klingenden Ambitus der Querflöte bewusst gewesen zu sein – trotzdem notiert er Musik für Traverso in Achtfußlage, folgt also noch immer den Notationskonventionen seiner Zeit.

 

Abb. 3: Guédrons „Sus, sus, la bergère”, gedruckt in Mersennes Harmonie Universelle.⁸
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Blicken wir in die Zeit vor Praetorius, ins ausgehende 16. und beginnende 17. Jahrhundert, wird der Ambitus des Instrumentes innerhalb des Gamuts, also des Tonvorrats der Renaissance, eingeordnet – eine Unterscheidung von notierter und klingender Tonhöhe wird nirgends erwähnt.

 

Aus der Zeit um 1600 gibt es zwei italienische Quellen, die den Tenortraverso, die am weitesten verbreitete Traversogröße, beschreiben.

 

Lodovico Zacconi gibt in seiner Prattica di Musica9 den Umfang des Instrumentes wie folgt an:
I Fifari non passano di sotto da D sol re, & di sopra il soprano non passa la quintadecima.10

 

Abb. 4: aus Zacconis Prattica di Musica, 1596.¹¹
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Sowohl aus dem Text als auch aus seiner graphischen Darstellung des Traversoambitus wird klar, dass er als tiefsten Ton des Instrumentes das d der kleinen Oktave und nicht das eingestrichene d 1 meint. Im Text schreibt er „D sol re“ – im Gamut die eindeutige Bezeichnung für das d, wohingegen das d 1 mit „D la sol re“ bezeichnet worden wäre. In der graphischen Darstellung (siehe Abb. 4, „I Fifari“) ist klar das d unter c 1 gemeint – das wird noch deutlicher, wenn man den links daneben abgebildeten Umfang der Violine mit g als tiefster Saite/tiefstem Ton damit vergleicht. Dass Zacconi mit den Oktaven bzw. Registern des Gamuts sehr exakt umgeht, lässt sich vergleichend aus den Angaben zum Ambitus der anderen Instrumente im Fließtext als auch in den Noten ersehen.

 

Eine weitere wichtige Quelle für den Traverso aus dieser Zeit ist das als Manuskript erhaltene Il Dolcimelo (ohne genaue Datierung) von Aurelio Virgiliano12. Im dritten Buch ist eine zweieinhalb Oktaven umfassende Grifftabelle für eine Traversflöte abgebildet, allerdings ohne genaue Oktavbezeichnungen. Die Griffe sind lediglich mit Buchstaben für Tonnamen bezeichnet. (Es ist zu bemerken, dass die Schlüsselsymbole in den Transpositionsangaben rechts in der Grifftabelle relativ gemeint sind: So stehen hier der C- und G-Schlüssel für relative Tonhöhen im Kontext einer Transposition.)

 

Abb. 5: Grifftabelle für den Traverso, Il Dolcimelo, um 1600.¹³
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Im zweiten Buch des Dolcimelo gibt es jedoch mehrere Ricercare, die mit Instru­­men­tierungsvorschlägen versehen sind. Das sechste Ricercar, beschrieben mit „per Trauersa; Violino; Cornetto; et altri Instrumenti“ hat einen Umfang von genau zwei Oktaven – von d bis d 2, ersichtlich anhand der beiden verwendeten Schlüssel C1 und C4. Virgiliano begriff den Ambitus des Traverso also auch, modern gesprochen, beginnend in der kleinen Oktave bzw. historisch gesprochen im ersten Register des Gamuts, den Graves, bei d und nicht bei d  1, dem real klingenden ersten Ton.

 

Abb. 6: Ricercar aus Il Dolcimelo, um 1600.¹⁴
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Dies deckt sich auch mit anderen Quellen aus früherer Zeit. In den Chansonsammlungen Vingt et sept chansons musicales a quatre parties15 und Chansons musicales a quatre parties16, beide gedruckt 1533 in Paris, empfiehlt der Herausgeber Pierre Attaingnant entweder/und ein Block- oder Traversflötenconsort für die Stücke. Alle Chansons sind jedoch in den üblichen Lagen für die Stimmlagen Bass, Tenor, Alt und Sopran mit den entsprechenden Schlüsseln notiert: der Sopran im G2- oder C1-Schlüssel, der Alt im C2- oder C3-Schlüssel, der Tenor im C3- oder C4-Schlüssel und der Bass im C4-, F3- oder F4-Schlüssel. Alle für Traversflötenconsort gedachten Stücke sind nahezu ohne Einschränkungen spielbar, lediglich einige Stücke unterschreiten den Ambitus der Bassflöte um einen Ton.17 Der überwiegende Teil der Chansons für Traverso ist im transponierten Modus, oder Cantus mollis, also mit einem ♭ in der Vorzeichnung, notiert – einem von Traversflöten bevorzugtem Modus.18 Auch Praetorius, Virgiliano, Frisius19 oder Jambe de Fer20 ordnen dem Traverso den Cantus mollis als bevorzugten Modus zu. Klang und Intonation sind im Cantus mollis leichter zu modulieren und zu korrigieren. Das wiederum lässt darauf schließen, dass die Chansons bei Attaingnant nicht um eine Quinte oder Quarte transponiert wurden, sondern in der entsprechenden Notation gelesen und gespielt wurden – und dann eben eine Oktave höher als notiert klingen.

 

Spielen Traversflöten im Consort, klingt das gesamte Ensemble zwar eine Oktave höher als notiert, aber die Relation der Stimmen untereinander ist richtig. Wie verhält es sich mit Traversflöten in einem gemischten Ensemble? Wurden diese dort auch in Mittelstimmen eingesetzt und wie ein „echter“ Tenor oder Alt behandelt?

 

Bleiben wir zunächst in der Zeit Pierre Attaingnants, also den 1520er und 1530er Jahren, aus der uns ikonographische Hinweise vorliegen. Eine prominente Bildvariation stammt vom Meister der weiblichen Halbfiguren21, der oder dessen Werkstatt vermutlich zwischen 1525 und 1550 in den südlichen Niederlanden aktiv war. Das Bild Drei musizierende Damen liegt in vier Fassungen vor, die sich heute in Brasilien, Russland, Österreich und den USA in privaten und öffentlichen Sammlungen befinden.22 Es zeigt Frauen in eleganter französischer Kleidung, die die Chanson Jouyssance vous donneray von Claudin de Sermisy musizieren. Auf dem Gemälde in Rohrau (Österreich) spielt die Flötistin den Cantuspart, der im C2-Schlüssel notiert ist. Auf dieser Gemäldefassung singt die linke Figur nicht, sondern scheint das Geschehen zu betrachten – im Gegensatz zu den drei anderen Versionen: Auf diesen spielt die Flötistin den Tenorpart, welcher den Ambitus der Flöte deutlich unterschreiten würde, würde er nicht eine Oktave höher gespielt werden. Die Sängerin singt auf allen drei Gemälden aus der Sopranstimme. Die Tenorstimme auf dem Gemälde in Brasilien ist im C4-Schlüssel notiert, die Versionen in Los Angeles und Sankt Petersburg (Abb. 7) im C3-Schlüssel, letztere übrigens in leichter rhythmischer Variation des Anfangs (Semibrevis – Minima – Minima statt Minimapause – Minima – Minima – Minima). Wie Colin Slim23 und Nancy Hadden24 ausführen, sind die Wahl des Instrumentes Flöte in Kombination mit dieser Chanson eine bewusste sexuelle Anspielung. Hinzu kommen in jedem Gemälde zahlreiche kleine Details wie Körper- und Instrumentenhaltung, Blickrichtung, Kleidung, Ausarbeitung von Schmuck und Instrumenten, die die Aussage oder den Unterton des Bildes jeweils leicht ändern, aber keinesfalls zufällig gewählt wurden. Die Fülle dieser Details lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass die Stimmbuch-Darstellungen unrealistisch oder dem Zufall überlassen worden sind.

 

Überträgt man diese Beobachtungen auf die musikalische Praxis, würden zwei Besetzungsmöglichkeiten denkbar sein:

1.) Der Traverso spielt den Diskant (die erste, also notierte und zweite Oktave wären theoretisch möglich) und die Laute eine oder mehrere andere Stimmen, eventuell verdoppelt sie auch den Diskant.

2.) Gesang (Diskant), Traverso (Tenor, klingt eine Oktave höher als notiert) und Laute (eine oder mehrere andere Stimmen, eventuell mit Verdopplung von Diskant und/oder Tenor).

 

Abb. 7: St. Petersburger Version der „Drei musizierenden Damen“.²⁵
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Eine weitere Darstellung, die durch ihre Detailtreue besticht, ist ein Druck, der 1585 von Jan I. Sadeler (1550–1600) nach einer Vorlage von Maarten de Vos (1532–1603) angefertigt wurde. Die Jungfrau umringt von musizierenden Engeln26 (Abb. 8) kann einem für Antwerpen typischen Genre dieser Zeit, der Bildmotette27, zugeordnet werden. Es zeigt die Jungfrau Maria, die von einem Engelsensemble umringt ist, welches ein fünfstimmiges Magnificat von Cornelis Verdonck (1563–1625) musiziert. Die Stimmen sind auf einen Zink im Superius, einen Traverso im Alt, eine Viola da Gamba im Tenor, einen singenden Engel, der den Kanon des Tenors in der Oktave singt sowie auf eine weitere Gambe im Bass aufgeteilt. Die Positionen und Blickrichtungen der Engel zeigen unmissverständlich die Stimmenaufteilung. Die Altstimme (Abb. 9) ist mit C2 geschlüsselt und steigt bis zum g hinab, was den Ambitus des Traverso um eine Quinte unterschreiten würde, wenn die Stimme nicht eine Oktave höher gespielt würde.28

 

Abb. 8: „Die Jungfrau umringt von musizierenden Engeln“
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Abb. 9: Detailansicht der Altstimme
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Um etwa dieselbe Zeit, im ausgehenden 16. Jahrhundert, wurde in England die Besetzung des Broken Consorts populär. In mehreren Drucken liegen uns historische Beispiele der Instrumenterierungspraxis dieser Zeit vor. Ein Instrumentalensemble, bestehend aus Diskantgambe oder Violine, Bassgambe, Laute, Cister, Pandora sowie einer Block- oder Traversflöte spielte Arrangements von bereits zuvor existierender polyphoner Musik. Dabei wurde der Altus-Part von einer Flöte gespielt. Es wird allerdings kaum je spezifiziert, ob es sich um eine Travers- oder Blockflöte handelt, und welche Instrumentengröße gefordert ist, was sich wiederum auf die klingende Oktave auswirken würde. Wie Richard Robinson29 aber überzeugend darlegt, wurden diese Mittelstimmen aller Wahrscheinlichkeit nach auf Tenortraversen bzw. einer kleineren Blockflöte gespielt und klangen so eine Oktave höher als notiert. Er macht dies an mehreren Hauptargumenten fest: Die Möglichkeit, den Part auf einer Bassflöte zu spielen ist unwahrscheinlich, da der Ambitus in einem signifikanten Teil des Repertoires noch immer unterschritten würde. Eine Oktave höher auf einem Tenortraverso gespielt taucht dieses Problem nie auf. Es gibt keine eindeutigen Hinweise auf den Gebrauch von Bassflöten im Broken Consort und es existieren keine Gegenhinweise zu der weithin verbreiteten Praxis, dass Flöten ihre Stimme(n) eine Oktave höher gespielt haben.30

 

 

Abb. 10: Altstimme aus Thomas Morleys „First Booke of Consort Lessons”, 1599.³¹
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Übrigens beschreibt auch Praetorius das Broken Consort „nach Art der Engelländer“. Wenden wir uns seinen Instrumentierungsvorschlägen im dritten Band des Syntagma Musicum zu, begegnet uns mehrmals die Präferenz für hoch bzw. in der Oktave klingende Stimmen. Er diskutiert ausführlich die Verdopplung der Stimmen durch Instrumente, neben dem Unisono auch in der Oktave, und bemerkt erneut, dass Flöten in einer höheren Oktave klingen. Er vergleicht diese Praxis mit dem oktavübergreifenden Registrieren an einer Orgel:

 

so der Concentor humana voce singet/ der Instrumentist uff Zincken/ Geygen/ Flöiten/ Posaun oder Fagotten in der Octaven drüber oder drunter machet. Denn etliche Instrumenta simplicia, als vornemblich die Flöitten/ wie in Tomo II.Cap.IV. mit mehrerm zu ersehen/ seynd jederzeit eine oder auch zwo Octaven höher nach dem Fußtohn zu rechnen/ als der Gesang an ihm selbsten gesezt ist ; Und ist in solchem Fall nichts anders/ als wenn in einer Orgel viel und mancherley Stimmen/ die in Vnisonis, Octaven, SuperOctaven […] zusammen gezogen werden.32

 

Interessant ist eine spätere Passage aus dem Syntagma Musicum III, in dem er diese Praxis in einen anderen lokalen Kontext stellt: „Es ist mir auch newlich aus Venedig zugeschrieben worden/ daß die vornembsten Musici in Italia in den Ripieni, (das ist in pleno Choro) mit allem fleiß die Vnisonos und Octaven gebrauchen/ aus eigener Experientz und Erfahrung/ daß solche Arten in so grossen Kirchen/ da die Chor weit von einander seyn/ viel bessere Krafft geben/ wenn sie mit den andern Choren zugleich in Vnisonis oder Octaven […] fortgehen ; Als wenn mit grossem fleiß (studiosamente) die Vnisonos und Octaven zu vermeyden/ gemacht und gesetzt weren/ do dann nimmermehr eine solche perfecta Harmonia und Resonantz sich könne vernehmen und hören lassen: …”33

 

Im Grunde findet sich eine entsprechende Praxis, wenn auch in einem musikgeschichtlich schon ganz anderem Kontext, noch in den Passionen Johann Sebastian Bachs (1685–1750) wieder – beispielsweise verdoppeln die Traversflöten in den meisten Turbachören der Johannespassion den Tenor in der Oktave darüber.

Praetorius empfiehlt unter bestimmten Umständen auch, den Alt oder Tenor mit einem (hohen) Knabensopran zu besetzen:

 

Oder man lasse den Altum durch ein solchen Knaben in der Octav höher singen/ welches keine unfreundliche harmoniam erregt / oder von sich gibt: Dergestalt denn auch bisweilen den Tenor gleicher massen in etlichen Cantionibus von eim Knaben in der Octav drüber singen zulassen/ nicht unanmütig zuhören.34

 

In seinen konkreten Instrumentierungsanweisungen für den Renaissancetraverso schlägt er einen „Querflöiten oder QuerPfeiffen Chor“ vor, bestehend aus drei Traversen für mit C1-, C2- oder C3-Schlüsseln vorgezeichnete Stimmen und einem Fagott, einer Posaune oder einem stillen Bombard für die Bassstimme. Er demonstriert dies an Werken von Merulo, Gabrieli und Hassler. Diese Besetzungsvorschläge ergänzt Praetorius mit einem wichtigen aufführungspraktischen Hinweis für den Fall, dass eine Tenorstimme mit einem C4-Schlüssel versehen wurde. Da der Traverso in einer so tiefen Lage zu leise ist, empfiehlt er die Verdopplung des Tenors mit einer Posaune oder Tenorgeige. Ist keines dieser Instrumente vorhanden und werden die oberen beiden Stimmen nicht von Traversflöten gespielt, rät er dazu … einen solchen Tenor mit einer Querflöiten […] gar bequem und richtig in Octava superiore, neben allerley andern Instrumenten musiciret und gebraucht werden. Das ist erstaunlich – Praetorius ist sich ja bereits der Tatsache bewusst, dass eine Tenorstimme auf einem Traverso eine Oktave höher als notiert klingt. Nun oktaviert er den Tenor abermals um eine Oktave nach oben!35

 

An anderer Stelle empfiehlt Praetorius, den Alt eines Vokalensembles durch ein Instrument im begleitenden Instrumentalensemble in der Oktave darüber verdoppeln zu lassen – hier warnt er allerdings davor, dass aus vormals Quarten zwischen Alt und Sopran nun Quinten werden: … do sonsten unten der Alt mit dem Cantu in Quarten gestanden/ oben Quinten draus werden; Welche etliche vermeynen/ dergestalt passiret werden köndten ; Welcher Meynung ich noch zur zeit nicht beypflichten kan.36 Leider schlägt er an dieser Stelle nicht weiter vor, was in einem solchen Fall zu tun ist. Ob so ein Fall möglichst zu vermeiden oder die originalen Intervallverhältnisse wieder durch Arrangieren hergestellt werden sollten, bleibt hier offen.


Diese Praxis steht der klanglichen Ästhetik von Komponisten wie Heinrich Schütz, Hermann Schein oder Samuel Scheidt nahe, die im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts auch Traversflöten in ihren geistlichen Konzerten besetzten.37 In den meisten Fällen spielt der Traverso in einem gemischten Vokal- und Instrumentalensemble eine zweite Stimme, der in der Regel ein C2-Schlüssel vorgezeichnet ist. Der notierte Ambitus unterschreitet den des Traverso, weswegen dieser eine Oktave höher als notiert spielt. Selbst wenn der Umfang nicht unter den tiefsten Ton der Flöte reichen würde und man die Stimme klingend in der notierten Oktave spielen könnte, wäre die Stimme nun als Tenor und nicht als Cantus empfunden worden. Darüberhinaus hat Praetorius die tiefe Oktave des Traverso als zu leise beschrieben – das zwar in der Funktion als Tenor, einer zentralen Stimme, die immer hörbar sein musste, aber auch im Kontext eines gemischten Ensembles, in dem die Balance der Lautstärken zwischen Traversflöten und anderen Instrumenten nur gegeben war, wenn die Flöte in der klanglich präsenteren hohen Lage spielen konnte.

 

Die erste Stimme solcher Konzerte ist häufig mit einer Violine besetzt, die meistens im G2-Schlüssel notiert wurde und wie notiert klingend gespielt wird. Es ergibt sich daraus dieselbe Konstellation wie bei Praetorius: Die erste Stimme klingt real tiefer als die zweite Stimme.

 

Abb. 11: Erste Cantus-/Violinstimme von „Lasset frölich seyn“ von Tobias Michael, aus „Musicalische Seelen=Lust Ander Theil“, 1637.³⁸
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Abb. 12: Zweite Cantus-/Traversostimme von „Lasset frölich seyn“ von Tobias Michael, aus „Musicalische Seelen=Lust Ander Theil“, 1637.³⁹
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Die historischen Quellen bieten uns also bereits eine Vielzahl an praktischen Umsetzungsmöglichkeiten an. Die Tendenz ist:


In einem gemischten Ensemble spielt der Traverso eine der Mittelstimmen und klingt eine Oktave höher als notiert. Nimmt man sich Praetorius' Bedenken über zu Quinten gewordener Quarten in den Oberstimmen zu Herzen, liegt durchaus ein Arrangieren der Stimmen an der entsprechenden Stelle nahe.


Aus meiner Erfahrung tendieren Ensembleleiter und -leiterinnen dazu, Renaissancetraversen in der obersten Stimme zu besetzen, da die Flöte als Diskantinstrument gesehen wird. Spielt der Traverso den Sopran in seiner tiefen Oktave, also wie notiert, kippt die Balance im Ensemble so gut wie immer zum Nachteil der Oberstimme. Spielt die Flöte allerdings in der hohen Oktave, gibt es zwischen Alt und Sopran mehr als eine Oktave Abstand, was sich in manchen Fällen ungünstig auf die klangliche Ausgewogenheit des Ensembles auswirkt. Diese Variante kann auch funktionieren oder ist sogar unabdingbar, z. B. beim Spiel von (Diskant-)Diminutionen. Spielt der Traverso jedoch eine der mittleren Stimmen, entweder alleine oder als Verdopplung in der Oktave, fallen die vorher beschriebenen Probleme weg. Ich erinnere mich an eine Aufführung der La Pellegrina-Intermedien mit einem großen Renaissanceensemble. Für dieses Werk ist an vielen Stellen im Erstdruck zwar angegeben, welche Instrumente gespielt haben, aber nicht was sie gespielt haben. Nach zwei frustrierenden Probentagen, in denen ich die oberste Stimme der polyphonen Sätze entweder mit Violine oder Zink im unisono oder der Oktave gespielt habe, und niemand im Ensemble vom klanglichen Ergebnis überzeugt war, konnte ich dank der Aufgeschlossenheit des Dirigenten in die Mittelstimmen wechseln. Auf einen Schlag sind Balance- und Intonationsprobleme verschwunden – je nach Satz spielte ich nun den Altus, Tenor oder Quintus. Spielpraktisch jedoch ist es nötig, dafür einen entsprechenden Klang zu kultivieren, oder wie meine Lehrerin Anne Smith dazu zu mir sagte: „You really have to play as if you are a real tenor!“ Gleichzeitig erhielt der Ensembleklang mehr Transparenz und „perfecte Harmonia und Resonantz“, um es mit Praetorius' Worten auszudrücken.

 

Anmerkungen:

[1] An dieser Stelle möchte ich meiner früheren Studentin, der Flötistin Mara Winter, für zahlreiche Gespräche über das Thema während ihres weiterführenden Studiums von 2018–2020 danken. 2021 hat sie auf dem YouTube-Kanal ihres Ensembles Phaedrus ein Video zu der Fragestellung „Why does the Renaissance flute play everything one octave higher?“ veröffentlicht: https://www.youtube.com/watch?v=AmlxmLL4r_s

[2] Boaz Berney: The renaissance flute in mixed ensembles: Surviving Instruments, Pitches and Performance Practice, in: Early Music Vol. 34, No. 2, Oxford 2006, S. 205 ff.

[3] Michael Praetorius: Syntagma Musicum II – Syntagmatis Musici Michaelis Preatorii C., Tomus Secundus de Organographia, Wolfenbüttel 1619

[4] Syntagma Musicum II, S. 21

[5] Syntagma Musicum II, S. 22

[6] Marin Mersenne: Harmonie universelle, Paris 1636

[7] Harmonie universelle, Harmonicorum Instrumentarum Liber II, S. 242

[8] Harmonie universelle, Harmonicorum Instrumentarum Liber II, S. 244

[9] Ludovico Zacconi: Prattica di Musica, Venedig 1596

[10] Prattica di Musica, S. 218

[11] Prattica di Musica, S. 219

[12] Aurelio Virgiliano: Il Dolcimelo d’Aurelio Virgiliano dove si contengono variati, passaggi, e diminutioni cosi per voce, come per tutte sorte d’instrumenti musicali; con loro accordi, e modi de sonare, Manuskript um 1600

[13] Il Dolcimelo, Libro Terzo

[14] Il Docimelo, Libro Secondo

[15] Pierre Attaingnant: Vingt et sept chansons musicales a quatre parties ; Vingt et sept chansons musicales a quatre parties, desquelles les plus convenables a la fleuste dallemant sont signees en la table cy dessoubz escripte par a. et a la fleuste a neuf trous par b. et por deux, par a b., Paris 1533

[16] Pierre Attaingnant: Chansons musicales a quatre parties desquelles les plus convenables a la fleuste d'allemant sont signees en la table cy dessoubz escripte par a. et a la fleuste a neuf trous par b. et pour les deux fleustes sont signees par a b., Paris 1533.

[17] Siehe auch Nancy Hadden: From Swiss Flutes to Consorts: History, Music and Playing Techniques of the Transverse Flute in Switzerland, Germany and France ca. 1470-1640 (PhD), Leeds 2010
Nancy Hadden: The Renaissance Flute in the Seventeenth Century, in: From Renaissance to Baroque: Change in Instruments and instrumental Music in the Seventeenth Century, Aldershot 2005, S. 113 ff.
Philippe Allain-Dupré: Les « Chansons musicales » d'Attaingnant pour flûtes d’Alleman, 2008, www.allain-dupre.fr/chansons.pdf.

[18] Ausführlich diskutiert in Anne Smith: Die Renaissancequerflöte und ihre Musik, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis II, Basel 1978, S. 9 ff

[19] Anne Smith: A Newly Found Fingering Chart for the Renaissance Traverso, in: Glareana 54/2 (2005), Zürich 2005, S. 62 ff.

[20] Philibert Jambe de Fer: Epitome musical des tons, sons et accordz, es voix humaines, fleustes d'Alleman, fleustes à neuf trous, violes, & violons, Lyon 1556.

[21] Ellen Konowitz: The Master of the Female Half-Lengths Group, Eclecticism, and Novelty, in: Oud Holland, vol. 113, Nr. 1/2, Leiden 1999, S. 1 ff.

[22] Meister der weiblichen Halbfiguren: Drei musizierende Damen. RIdIM Record ID 4668, 4669, 4670 und 4672.

[23] H. Colin Slim: Paintings of lady concerts and the transmission of ’Jouissance vous donneray’, in: Painting Music in the Sixteenth Century – Essays in Iconography, Aldershot 2002, S. 51 ff.

[24] Nancy Hadden: From Swiss Flutes to Consorts: History, Music and Playing Techniques of the Transverse Flute in Switzerland, Germany and France ca. 1470-1640 (PhD), Leeds 2010.

[25] Drei musizierende Damen, RIdIM Record ID 4672.

[26] Jan Sadeler, nach Maarten de Vos: Magnificat – Die Jungfrau umringt von musizierenden Engeln, Antwerpen 1585.

[27] Reinhold Hammerstein: Imaginäres Gesamtkunstwerk. Die Niederländischen Bildmotetten des 16. Jahrhunderts, in: Reinhold Hammerstein: Schriften, Bd. 2, Tutzing 2000, S. 239 ff.

Weiterführende Literatur zum Thema: Thea Vignau-Wilberg: Niederländische Bildmotetten um 1600, Altenburg 2013.

[28] Die umfangreichste Sammlung zur Ikonographie der Renaissancetraverso wurde von Liane Ehlich und Albert Jan Becking erstellt und wird laufend erweitert: www.renaissanceflute.ch.

[29] Richard Robinson: “A perfect-full harmonie”: Pitch, tuning and instruments in the Elizabethan and Jacobean mixed consort, in: Early Music, May 2019, Oxford 2019, S. 199 ff.

[30] Richard Robinson fasst zusammen: “In sum, the evidence implies that the flute was conceived of as an instrument whose sounding pitch was an octave above other instruments, rather than as an instrument which actively transposed the written notes up an octave.” In: “A perfect-full harmonie”: Pitch, tuning and instruments in the Elizabethan and Jacobean mixed consort.

[31] Thomas Morley: The First Booke of Consort Lessons, made by divers exquisite Authors, for 6 Instruments to play together, the Treble Lute, the Pandora, the Cittern, the Base-Violl, the Flute & Treble Violl, London 1599.

[32] Syntagma Musicum III, S. 96.

[33] Syntagma Musicum III, S. 97 f.

[34] Syntagma Musicum III, S. 158.

[35] Syntagma Musicum III, S. 156 f.

[36] Syntagma Musicum III, S. 95.

[37] Boaz Berney: Musicalischer Seelen-Lust: The use of the traverso in German seventeenth century sacred concerti, in: Geschichte, Bauweise und Spieltechnik der Querflöte, Michaelstein 2008, S. 263 ff.

[38] Tobias Michael: Musicalischer Seelen-Lust Ander Theil, darinnen, gleichermassen, auszerlesene vnd aus H. Göttlicher Schrifft gezogene Glaubens-Seufftzerlein, hertzliche Andacht vnd Frewde, etc.; In mancherley Art, mit 1.2.3.4.5.6. vnd mehr Stimmen, abgewechselten Instrumenten, Symphonien vnd Capellen gesetzete, doch nur in fünff Voces vnd ihrem Bass. contin. eingetheilete Concert zu befinden, Leipzig 1637.

[39] Tobias Michael: Musicalischer Seelen-Lust Ander Theil, Leipzig 1637.

 

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Johanna Bartz ,