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Kordula Knaus: Musikgeschichte „Barock“ Rezensionen
Dieses Buch nimmt vielfältige Facetten barocker Musik in den Blick, Finanzierungsfragen und Veranstaltungsformen kommen dabei ebenso zur Sprache wie die Entstehung neuer Gattungen, die Virtuosität von Gesangsstars oder die Frage, auf welchen Instrumenten Musik damals gespielt wurde, Reihe: Bärenreiter Studienbücher Musik, Band 24, Kassel 2023, Bärenreiter-Verlag, ISBN 978-3-7618-2457-3, 223 S., 21,0 x 15,0 cm, kartoniert, € 27,50
Zufällig brachte mir neulich der Postbote gleichzeitig sowohl das Rezensionsexemplar aus der neuen musikgeschichtlichen Buch-Reihe des Bärenreiter Verlags sowie das Jubiläumsmagazin Bärenreiter 1923–2023.
In dem sehr gut aufbereiteten und weit über eine unkritische Selbstschau hinausgehenden Bärenreiter-Magazin wird u. a. auch an das Erscheinen des ersten Bandes der Reihe „Studienbücher Musik“ erinnert: 1992 war als Band Nr. 1 Nicole Schwindt-Gross‘ Musikwissenschaftliches Arbeiten erschienen, nach wie vor ein wichtiges Referenzwerk zum Thema.
Der jetzt vorliegende Band Musikgeschichte Barock von Kordula Knaus trägt die Nr. 24 in der Reihe der Studienbücher.
Die dazwischen liegenden Nummern widmen sich verschiedenen Themen wie „Alte Tonarten“, „Musikalische Metamorphosen“, „Instrumentation“, teilweise aber auch mit medialer Begleitung von Übungsmaterial als ausgesprochene Lehrgänge dem „Vierstimmigen Satz“ oder „Gehörbildung“.
Zwischen Band 1 und Band 24 liegen mehr als 30 Jahre, in denen sich die Welt erheblich verändert hat, nicht zuletzt im medialen Bereich, der ja auch von Musikstudierenden heute neuartige Kompetenzen, vor allem in den Bereichen Recherche und Bibliographieren, erfordert.
Im Falle des genannten „Studienbuchs“ Nr. 1 hat der Verlag darauf bereits reagiert, indem er es mit der Nr. 19 unter gleichem Titel ersetzt hat durch eine Neufassung von Matthew Gardner/Sara Springfeld.
Die Frage, ob es solcher gedruckten Übersichts-Darstellungen wie „Musikgeschichte Barock“ in Zeiten von Wikipedia, YouTube und im Internet weithin unbegrenzter Verfügbarkeit von Quellen und wissenschaftlichen Texten heute überhaupt noch bedarf, stellt sich durchaus, zumal das gute alte Lexikon im praktischen Gebrauch ja so gut wie ausgedient hat.
Die Zielgruppe für die „Studienbücher Musik“ dürfte klar zu definieren sein: angehende und praktizierende Musikprofis. Sie dürfte sich in erster Linie aus Musik- und Musikwissenschafts- bzw. Kulturgeschichtsstudierenden zusammensetzen; interessierten Laien nur insoweit, als diese schon ein gerütteltes Maß an Vorwissen mitbringen müssen, um den Inhalten folgen zu können.
Wie wohl auch schon im Titel der Reihe angelegt, ist es auch mit dem reinen Lesen eines solchen Buches nach dem „Trichter“-Prinzip nicht getan. Wenn man größtmöglichen Nutzen aus ihm ziehen möchte, kann es als gut strukturierter Leitfaden und gedankliches Gerüst zu überaus weiten und höchst komplexen Themenfeldern dienen.
Bis zur Aneignung echter Kompetenzen gehört zur Aufgabenstellung nicht nur die Lektüre des Buchs selbst, sondern ebenfalls die vertiefender Literatur zu den einzelnen Themenpunkten, im Falle einer „Musikgeschichte“ aber vor allem: Kennenlernen und sinnliches Erfahren der besprochenen Musik durch Partiturstudium, eigenes Musizieren oder Anhören.
In diesem Sinne und für diese Zielgruppe dürfte einem „Studienbuch“ in Printform auch heute noch eine absolute Daseinsberechtigung zukommen! Internet und andere Medien werden bei sinnvoller Benutzung des Buchs als unverzichtbare Helfer ohnehin begleitend zu intensivem Einsatz kommen.
Die Vorgabe seitens des Verlags für die neue Musikgeschichts-Reihe scheint klar gewesen zu sein: 200 Seiten und damit basta!
Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit, auf diesen 200 Seiten alle wichtigen und relevanten Ereignisse Persönlichkeiten, Meisterwerke, kultur- und stilgeschichtlichen Besonderheiten und Wandlungen von 150 Jahren Musikgeschichte irgendwie zur Sprache und in Zusammenhänge zu bringen. Aber: Kompliment!
Es gelingt der Autorin dank bestem eigenem aktuellen Wissensstand und sehr guter Strukturierung, wirklich an (fast) alles zu denken: In 6 Großkapiteln, die ihrerseits in mehrere Unterkapitel unterteilt sind: „Barock-Musik-Geschichte“, „Die Musikkultur der Barockzeit“, „Barocke Stile“, „Struktur- und Organisationsprinzipen", „Gattungen und Aufführungskontexte“ sowie „Alte Musik aufführen“.
Sehr klug streut sie kurze Werkanalysen einzelner exemplarischer Musikbeispiele aus den verschiedensten Bereichen ein (eben solche, die man dann aber selber weiter studieren und hörend erfahren sollte).
Im Abschnitt „Alte Musik aufführen“ weist sie in ganz knapper und wohltuend undogmatischer Form auf einige zentrale Fragen der Aufführungspraxis hin, wie Besetzung von Kastratenpartien, Stimmtonhöhen und Stimmungssysteme, Ornamentierungspraktiken etc.
Es ist sicher auch der Vorgabe des Verlags und der begrenzten Seitenzahl zu verdanken, dass sie in die seit langem geführte und durchaus brisante Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Begriffs „Barock“ in seiner Doppelfunktion als Stil- und Epochenbegriff nicht mit einer eigenen prononcierten Interpretation einsteigt. Dies betrifft ja in erster Linie die Frage, wann die Barockepoche – wenn wir den Begriff denn einmal wählen wollen – als beendet zu gelten hat. Der allgemeine Stand der Wissenschaft ist ja, dass die wichtigen Autoren, die sich zu diesem Thema geäußert haben (z. B. im MGG alt und MGG neu), darin einig sind, dass die Epoche ab 1720 bis spätestens 1740 als abgeschlossen zu gelten hat, da das wunderbar praktische Datum von Bachs Todesjahr 1750, das Knaus jetzt wieder für ihr Buch ins Spiel bringt, in keiner Weise mit der Realität der stilistischen Entwicklungen der Zeit konform geht. (Das Neue Handbuch der Musikwissenschaft geht ja der Fragestellung völlig aus dem Wege, indem es gar nicht die gängigen Epochenbegriffe, sondern Jahrhunderte als Raster verwendet.)
Die Parallellektüre bereits früher veröffentlichter Beiträge zu diesem Thema mit den Statements von Friedrich Blume, Claude Palisca, Carl Dahlhaus, Daniel Heartz, Robert O. Gjerdingen u. a. scheint mir unverzichtbar zu sein, um in der Frage der Gültigkeit des Labels „Barock“ zu einer eigenen Position zu gelangen.
Beim MGG neu, dem „größten Musiklexikon aller Zeiten“ passiert es, dass 50 Jahre zentraler Musikgeschichte in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf zigtausenden Seiten nirgendwo eine befriedigende stilistische Beschreibung und epochale Einordnung finden! Barock gilt als mit 1730 zu Ende, „richtige“ Klassik gibt es erst gegen 1780! Alle häufig für die Zwischenjahre verwendeten Stilbegriffe wie „Sturm und Drang“, „Galanter Stil“, „Empfindsamkeit“ etc. werden als für ihre musikgeschichtliche Relevanz relativiert oder wie im Falle „Sturm und Drang“ vom „Chef“ Ludwig Finscher selbst als für musikalische Belange unzutreffend abgelehnt; Schlagworte wie „Vorklassik“, „Frühklassik“ etc. existieren gar nicht!
Bei Knaus findet man auf S. 170 die Bemerkung: Die „Orchestersinfonie“ wie sie sich ab 1750 in Mannheim oder Wien ausprägte, wird […] zu einer der wichtigsten Gattungen der Instrumentalmusik der „Klassik“. Da wundert man sich doch, wenn man bedenkt, dass die beiden „Väter“ dieser Entwicklung, Johann Stamitz in Mannheim und Georg Matthias Monn in Wien, bereits 1757 und 1750 gestorben waren. Da sollte doch wohl schon vor 1750 Einiges passiert sein! Die Namen Stamitz und Monn werden im Buch gar nicht genannt, ebenso wenig wie die anderer bedeutender Innovatoren aus Neapel wie Leonardo Leo (gest. 1744) oder Francesco Durante (gest. 1755).
Dieser kleine Exkurs nicht, um die Qualität und das hohe Informationsniveau des vorgestellten Buchs schmälern zu wollen, sondern vielmehr als einen Appell an den Verlag, die Lücke zwischen „Barock“ und „Klassik“, in der ein ganz großer Teil der Musik entstanden ist, die wir heute aufführen, vielleicht ebenfalls mit einem eigenen Studienbuch zu bedenken! So etwas fehlt in der Tat, handelt es sich doch um eine unglaublich aufregende und spannende Zeit, aus der letztlich unser heutiges Musikleben erwachsen ist! Es scheint mir immer noch ein Verhaftet-Sein im Heroendenken des 19. Jahrhunderts: nur, weil sich zwischen Johann Sebastian Bach und Joseph Haydn keine vergleichbar „großen“ Namen ausmachen lassen, wird nach wie vor die ganze Spanne zwischen 1730 und 1780 zu einer reinen Nach- bzw. Vorläuferperiode ohne eigenständiges Profil erklärt.
Seit Peter Rummenhöllers Die Musikalische Vorklassik von 1983 (Bärenreiter/dtv, längst vergriffen!) ist meines Wissens zumindest in deutscher Sprache nichts Relevantes dazu erschienen.
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Michael Schneider(...)