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„Flautino“- und „Flauto piccolo“-Partien in Werken von Scarlatti, Stölzel, Arne, Pucklitz und Röllig Fachartikel

 

 

In den Jahren 1951 bis 1953 erschienen die drei Concerti „per Flautino“ von Antonio Vivaldi erstmals im Druck. Um 1965 setzte dann ihre Rezeption auf der Blockflöte ein. Seither geht von dem Repertoire für „Flautino“ bzw. „Flauto piccolo“ ein besonderer Reiz aus, der gleichermaßen die Blockflötenspielerinnen und -spieler wie ihre Zuhörerinnen und Zuhörer erfasst. In den Jahren bis etwa 2000 folgten mehrere Veröffentlichungen zur Instrumentenkunde der kleinen Blockflöten und ihrem Repertoire, wobei meist die Flautino-Stimmen Vivaldis im Zentrum standen.1 Zum Beginn des 21. Jahrhunderts ist es um diese Thematik ruhiger geworden. Hat vielleicht Winfried Michels2 „letzter Leseversuch“ der Flautino-Konzerte Vivaldis für eine unkreative Ruhe gesorgt? Erst nachdem Julia Wetzel3 2022 den Versuch unternahm, den aktuellen Forschungsstand zusammenzufassen, kam wieder Bewegung in das Thema: Nik Tarasov verfasste 2023 zwei interessante Beiträge4, die zu neuen Erkenntnissen führten. Dabei wurde – den theoretischen Quellen entsprechend – auch das Französische Flageolett wieder ins Blickfeld gerückt.

 

In der bisher vorliegenden Literatur zur Organologie und zum Repertoire für hohe Blockflöten aus dem 18. Jahrhundert werden neben Vivaldi5 hauptsächlich die Flauto-piccolo-Partien von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel betrachtet. Die Dissertation von Lenz Meierott6 hat jedoch gezeigt, dass ein umfassendes Verständnis der damaligen Spielpraxis nur durch die Einbeziehung von Werken weiterer Komponisten zu gewinnen ist. Dazu sollen die folgenden Beschreibungen hoher Blockflötenstimmen von Alessandro und Pietro Filippo Scarlatti, Gottfried Heinrich Stölzel, Thomas Augustine Arne, Johann Daniel Pucklitz und Johann Georg Röllig einen Beitrag leisten. Die Entstehung der Kompositionen umfasst den Zeitraum von 1698 bis 1750.

 

*

 

Aus den Opern und Kantaten von Alessandro Scarlatti (1660–1725) sind bisher vier Arien mit Flautino bekannt geworden:7

 

Quell’esser misero (a-Moll) aus der Oper Il prigioniero fortunato, Neapel 1698, für Sopran, Flautino (notiert d2–e3), Violine, (Violine II, Viola ad lib.), B. c.8

Farfalletta ch’amante deliro (A-Dur) aus der Oper Eraclea, Neapel 1700, für Sopran, Flautino (e1–cis3), B. c.9

Sconsolato Rusignolo (c-Moll), Neapel 1701, für Sopran, Flautino (notiert c2–c3), Violine, Viola, B. c.10

Più non m’alletta (g-Moll) aus der Serenata Il Giardino d’Amore, Rom 1706, für Sopran, Flautino (notiert g1–d3), B. c.11

 

 

Abb. 1
Alessandro Scarlatti: Arie „Quell’esser misero“ aus der Oper „Il prigioniero fortunato“, Neapel 1698, British Library London, Signatur ADD 16126.
../../fileadmin/user upload/Abb. 1 Scarlatti

 

 

Ein weiteres Flautino-Solo ist in der Kantate Humanità e Lucifero zu finden, die gelegentlich irrtümlich Alessandro Scarlatti zugeschrieben wird. Die älteste Quelle, die heute noch am Ort der Uraufführung12 aufbewahrt wird, nennt jedoch dessen Sohn Pietro Filippo Scarlatti (1679–1750) als Komponisten:

 

Abb. 2
Pietro Filippo Scarlatti: Kantate „Humanità e Lucifero”, Rom 1704, Titelseite. Collegio Nazareno Rom, Signatur REG. M. 35.

../../fileadmin/user upload/Abb. 2 F. Scarlatti Titel
Abb. 3
Pietro Filippo Scarlatti: Kantate „Humanità e Lucifero”, Beginn der Arie „Pianga pure al duol“, Collegio Nazareno Rom, Signatur REG. M. 35.

../../fileadmin/user upload/Abb. 3 F. Scarlatti 1. Seite

 

Pianga pure al duol (B-Dur) aus der Kantate Humanità e Lucifero, Rom 1704, für Tenor, Flautino (notiert b1–es3), Violine, Viola, Violoncello, B. c.13

 

Die drei erstgenannten Arien stammen aus Alessandro Scarlattis erster Schaffenszeit in Neapel (1684–1702), die vierte aus seiner ersten römischen Zeit (1703–1706). Klammert man die Arie Farfalletta ch’amante deliro aus, so sind die Flautino-Partien ähnlich angelegt: Sie sind spieltechnisch nicht sehr anspruchsvoll und verlangen nur einen begrenzten Tonumfang, zusammengefasst notiert als g1–e3. Mit dem Tonumfang b1–es3 bleibt auch die Flautino-Partie von Pietro Filippo in dem von seinem Vater (und Lehrer) gesteckten Rahmen.

 

Selbstverständlich ist für die Ausführung der Flautino-Stimmen von einer Oktavierung auszugehen. Ohne die Arie Farfalletta ch’amante deliro ist der klingende Umfang der Flautino-Partien von Vater und Sohn Scarlatti also g2–e4. Für die Klärung der Frage, welches Instrument sich bei den beiden Scarlattis unter „Flautino“ verbirgt, sind die gleichen italienischen Quellen hilfreich, die auch bei Vivaldis Flautino heranzuziehen sind14, nämlich der Compendio musicale von Bartolomeo Bismantova, Ferrara 1677,15 und der Gabinetto armonico von Filippo B(u)onanni, Rom 1722 und 1776.16 Bismantova nennt neben dem Flauto Italiano (Blockflöte in g1) noch Il Flasoletto, ò Flautino alla Francese. Nach Abbildung und Beschreibung handelt es sich dabei um ein Französisches Flageolett mit vier vorderständigen Grifflöchern und zwei Daumenlöchern.

 

Abb. 4
Bartolomeo Bismantova: „Compendio musicale“, Ferrara 1677, fol. 53.
../../fileadmin/user upload/Abb. 4 Bismantova Flageolet

 

Leider schreibt Bismantova nichts über Stimmung und Tonumfang dieses Instruments. Bonanni ist in seinem Gabinetto armonico etwas aussagekräftiger. Nach der Aufzählung der Alt-, Sopran-, Tenor- und Bassblockflöte folgt in beiden Auflagen seines Traktats der folgende Text:

 

A questi se ne può aggiungere un’altro chiamato Ottavino, per chè suona l’ottava voce del Flauto contralto, ed è lungo palmo uno, e due oncie. Un’altro delle specie medesima si usa, detto comunemente Flageolet, ovvero Flautino, lungo circa un palmo, ed ha quattro buchi sopra, e due sotto.

(Zu diesen können wir ein weiteres Instrument hinzufügen, das Ottavino heißt, weil es acht Töne höher klingt als die Altflöte und eine Handlänge und zwei Unzen lang ist. Es wird [auch noch] eine andere Art derselben Gattung verwendet, die üblicherweise Flageolet oder Flautino genannt wird, etwa eine Handlänge lang ist und oben vier Löcher und unten zwei hat.)

 

Wie Bismantova versteht Bonanni also unter Flautino das Französische Flageolett. Die f2-Sopraninoblockflöte, die Bismantova überhaupt nicht erwähnt, wird bei Bonanni Ottavino genannt. Bonannis Flageolett ist etwas kürzer als der Ottavino,17 es könnte folglich in g2 oder a2 gestimmt gewesen sein.

 

Für die heute oft angenommene Gleichsetzung von Flautino mit Sopraninoblockflöte gibt es also in der italienischen Literatur der Jahre zwischen 1677 und 1776 keinen Beleg. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, dass in Italien der Begriff Flautino als Synonym für das Französische Flageolett verwendet wurde. Für den bei Scarlatti vorkommenden Umfang g2–e3 und die oben genannten Tonarten kommt in erster Linie das Flageolett in g2-Stimmung in Betracht – das gleiche Instrument, auf dem auch Vivaldis Flautino- und Flasolet-Partien spielbar sind.18 Weil die Flautino-Partien von Alessandro und Pietro Filippo Scarlatti spieltechnisch keinen hohen Anspruch stellen und nicht für das Flageolett typisch angelegt wurden, können sie heute auch auf der f2-Sopraninoblockflöte wiedergegeben werden.

 

Die Flautino-Partie der Arie Farfalletta ch’amante deliro aus der Oper Eraclea stellt durch den notierten Umfang e1–cis3 und die Tonart A-Dur einen Sonderfall dar. Die Stimme ist zwar auf einem Flageolett in g2 spielbar, sie erfordert allerdings für das notierte e1 die spezielle Flageolett-Spieltechnik der Teildeckung des Schalllochs.19 Dieser Ton kommt auch in Vivaldis Concerto per Flautino a-Moll RV 445 PV 83 und in der zweiten Flageolett-Stimme seiner Arie Di due rai languire RV 749 vor,20 gehörte also offenbar zum spielbaren Tonumfang des Flageoletts. – Bei heutigen Aufführungen der Arie Farfalletta ch’amante deliro kommt als Ersatz für das Flageolett eine Blockflöte in d2 in Frage. Einen Anspruch auf Authentizität könnte diese Lösung allerdings nicht erheben, weil es bisher keine italienischen Belege für Blockflöten in dieser Stimmung gibt.

 

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Das umfangreiche Kantatenwerk des Gothaer Hofkapellmeister Gottfried Heinrich Stölzel (1690–1749) ist heute wenig bekannt. Die erhaltenen 472 Kantaten sind zwar katalogisiert,21 aber bis auf wenige Ausnahmen nicht veröffentlicht. Der größte Teil davon ist in Abschriften erhalten, die Stölzels Schüler Johann Christoph Rödiger (1704–1765) für Aufführungen in Sondershausen erstellt hat. Die Handschriften wurden erst 1870 in einem Behälter unter der Schlosskirchenorgel aufgefunden.22

 

Eine grundlegende Untersuchung zum Instrumentarium Stölzels liegt noch nicht vor. Beobachtungen zu einzelnen Instrumenten haben jedoch gezeigt, dass Stölzel auch Sonderformen der Holzblasinstrumente, die zu seiner Zeit neu waren, vorgeschrieben hat, z. B. die Oboe d’amore23 und die Terztraversflöte (Flauto traverso piccolo)24. Unter dem Begriff Flauto d’amore verwendete er sogar die in Deutschland selten verlangte Blockflöte in d1, heute als Voice Flute bekannt.25 Auf weitere Erkenntnisse zum Instrumentarium Stölzels darf man gespannt sein.

 

Vor kurzem ist Stölzels Kantate Uns ist ein Kind erschienen als Erstdruck vorgelegt worden.26 Es handelt sich dabei um die erste der beiden Kantaten27 zum 1. Weihnachtstag, die zu Stölzels Kantatenjahrgang 1729/30 gehören.28 Diese und auch die zweite Kantate Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget29 ist für Soli, vierstimmigen Chor, 3 Trompeten, Pauken, Flauto piccolo, Streicher, obligate Orgel und Basso continuo bestimmt. In den beiden Kantaten ist jeweils eine Arie mit Flauto piccolo besetzt. In der ersten ist dies die Sopran-Arie Du bist ein Menschenkind geboren in Es-Dur, in der zweiten die Alt-Arie Ich bin Gottes Liebe Kind in c-Moll. In beiden sind neben dem Flauto piccolo noch zwei Violinen, obligate Orgel und Basso continuo vorgesehen. Der Part des Flauto piccolo ist in F-Dur bzw. d-Moll im französischen Violinschlüssel notiert. Das bedeutet, dass die Stimme in Griffnotation analog zur Blockflöte in f2 geschrieben ist,30 deren Stimmton jedoch eine große Sekunde tiefer lag als der Kammerton der Streicher. Der notierte Umfang des Flauto piccolo beträgt insgesamt a1 bis d3.

 

Abb. 5
Gottfried Heinrich Stölzel: Arie „Du bist ein Menschenkind geboren“ aus der Kantate „Uns ist ein Kind erschienen“. Der Flauto piccolo ist in F-Dur, die übrigen Stimmen sind in Es-Dur notiert. Schlossmuseum Sondershausen, Signatur Mus. A 15:38.
../../fileadmin/user upload/Abb. 5 Stoelzel

 

Eine einfache und praktische Lösung für diese Situation bietet das Verfahren, das in der Neuausgabe der ersten Kantate angewandt wurde, nämlich die Transposition der Flauto piccolo-Partie eine große Sekunde abwärts nach Es-Dur. Die Stimme hat dann den notierten Umfang g1 bis c3 und kann gut auf einer Sopraninoblockflöte in f2 wiedergegeben werden, die im gleichen Stimmton steht wie die Streichinstrumente. Allerdings bleibt bei diesem Verfahren die originale Grifflage der Blockflötenstimme nicht erhalten. 

 

Abb. 6
Gottfried Heinrich Stölzel: Arie „Du bist ein Menschenkind geboren“ aus der Kantate „Uns ist ein Kind erschienen“, Cornetto-Verlag Stuttgart CP1649.

../../fileadmin/user upload/Abb. 6 Cornetto
Abb. 7
Gottfried Heinrich Stölzel: Arie „Ich bin Gottes Liebe Kind“ aus der Kantate „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget“, Schlossmuseum Sondershausen, Signatur Mus. A 15:39.
../../fileadmin/user upload/Abb. 7 Arie aus 2 Kantate

 

Bei der Suche nach einem Weg zur Erhaltung der originalen Grifflage in F-Dur bzw. d-Moll könnten sich erfahrene Blockflötenspieler an die Situation in Johann Sebastian Bachs frühen Kantaten erinnern, in denen es ebenfalls einen Stimmtonunterschied zwischen Streichern und Blockflöten gibt. Im Gegensatz dazu sind jedoch in Stölzels Partituren alle Stimmen (Singstimmen, Streicher und Orgel) im Kammerton notiert, nicht etwa im höheren Chorton der Orgel. Das ergibt sich aus der hohen Durchschnittslage der Singstimmen31 und der unspielbar hohen Lage32 der obligaten Orgelstimmen in den Partituren. Es ist davon auszugehen, dass die nicht erhaltenen Einzelstimmen für die chortönig gestimmte Orgel um eine kleine Terz tiefer notiert waren, statt Es-Dur bzw. c-Moll also C-Dur bzw. a-Moll. Der Flauto piccolo war eine große Sekunde tiefer als der Kammerton der Streicher gestimmt, also in einem „tiefen Kammerton“. Gegenüber der chortönigen Orgel stand die Blockflöte folglich eine Quarte tiefer. Geht man vom heute üblich gewordenen Kammerton von a1=415 Hz aus, so wäre die Partie aus der originalen Notation in F-Dur bzw. d-Moll auf einer d2-Blockflöte (bei a1=440 Hz) mit der Vorstellung einer F-Blockflöte spielbar. Dabei bliebe die originale Grifflage erhalten. Für heutige Aufführungen wäre allerdings der Kammerton von a1=392 Hz noch geeigneter. Die Flauto piccolo-Stimme könnte dann in der originalen Grifflage auf einer Sixth Flute in d2 (bei a1=415 Hz) wiedergegeben werden.

 

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Der Londoner Geiger und Komponist Thomas Augustine Arne (1710–1778) hinterließ zahlreiche Bühnenwerke, die an verschiedenen Londoner Theatern und in Dublin mit großem Erfolg aufgeführt wurden. Von ihm sind bis jetzt vier Werke mit hohen Blockflöten bekannt geworden:

 

Under the greenwood tree F-Dur (aus As you like it, London 1740) für Sopran, Flauto piccolo (notiert c2–d3), 2 Violinen, B. c.33

The Morning G-Dur (Cantata, London 1755) für Sopran, German Flute or Small Flute (notiert a1–d3), 2 Violinen, Viola, B. c.34

The woodlark whistles C-Dur (aus Eliza, London 1758) für Sopran, Little Flute solo (notiert c2d3), 2 Violinen, B. c.35

A wood nymph G-Dur (aus The fairy Prince, London 1771) für Sopran, Octave Flute (notiert c2e3), 2 Violinen, B. c.36

 

Abb. 8
Thomas Augustine Arne: „The woodlark whistles“, British Library London, Signatur G 228 (1.).
../../fileadmin/user upload/Abb. 8 Arne Woodlark

 

 

Von Arnes Begriffen für die hohen Flöteninstrumente ist lediglich „Octave Flute“ eindeutig. Damit ist die Sopraninoblockflöte in f2 gemeint. Auf diesem Instrument sind auch die drei anderen Werke gut spielbar, die für „Flauto piccolo“, „Small Flute“37 bzw. „Little Flute“ bestimmt sind. Vom Tonumfang a2–e4 her kommt außer der „Octave Flute“ auch eine andere „Small Flute“ in Frage, nämlich die „Sixth Flute“ in d2. Allerdings liegen die Partien bequemer auf der „Octave Flute“, der Sopranino-Blockflöte. Nicht ganz auszuschließen ist jedoch das Französische Flageolett. Georg Friedrich Händel verlangte es 1711 in London für die bekannte Vogelarie Augelletti, che cantate in seiner Oper Rinaldo zusammen mit zwei Altblockflöten.38 Außerdem hat Johann Christoph Pepusch das Flageolett in seiner Masque Venus and Adonis ausdrücklich vorgeschrieben. Dieses Werk wurde 1715 in London erstmals aufgeführt, wobei wahrscheinlich der damals berühmte Flageolett-Spieler John Banister mitwirkte.39 Douglas MacMillan berichtet noch von „a few bars for the flageolet“ von William Shield (1748–1829) in der Oper Fontainbleau (1782) und einer Vogelimitation mit Flageolett in The Children in the Wood (1793) von Samuel Arnold (1740–1802).40 Für die Jahre 1740 bis 1771, also die Entstehungszeit der Arien Arnes, sind allerdings aus der englischen Theatermusik keine ausdrücklich für Flageolett bestimmten Partien bekannt. Möglicherweise sind Arnes Partien absichtlich so unspezifisch angelegt, damit sie gleichermaßen auf verschieden gestimmten „Small Flutes“ und dem Flageolett darstellbar sind. Sie waren ja nicht nur für einzelne öffentliche Aufführungen mit professionellen Musikern gedacht wie die Arien von Händel und Pepusch, sondern wurden durch gedruckte Ausgaben auch den weniger virtuosen Hausmusik-Liebhabern zugänglich gemacht.

 

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Johann Daniel Pucklitz (1705–1774) lebte und wirkte in seiner Heimatstadt Danzig. Seine musikalische Ausbildung erhielt er vermutlich bei seinem Vater Daniel Pucklitz, einem Danziger Zunftmusiker, und vielleicht auch von dem Kapellmeister an St. Marien, Maximilian Dietrich Freislich (1687–1764). Seit 1740 ist Johann Daniel Pucklitz als Danziger Ratsmusiker nachgewiesen. Außerdem veranstaltete er öffentliche Oratorien- und Kantatenkonzerte mit eigenen Werken. Für verschiedene Danziger Kirchen komponierte er Messen, Kantaten und Oratorien.

 

In seinen Kantaten verlangte Pucklitz mehrfach Flauti à bec (Altblockflöten in f1),41 jedoch auch zweimal eine Flaute piccolo. Sowohl die Flauti à bec als auch die Flaute piccolo sind in den autographen Partituren im französischen Violinschlüssel notiert.

 

In der Choralkantate Ach Gott und Herr wie groß und schwer42 ist die Flaute piccolo in drei Strophen besetzt: In Strophe 7 dupliert sie den Cantus firmus, der vom Sopran vorgetragen wird, in Zweifußlage, in Strophe 8 spielt sie Überleitungen zwischen den vom Tenor gesungen Choralzeilen. Anlass für den Einsatz der Piccoloflöte war sicher der Text der 7. Strophe:43

 

Gleichwie sich fein

ein Vögelein

in hohlen Bäum‘ verstecket,

wenns trüb hergeht,

die Luft unstet,

Mensch und Vieh erschrecket.

 

 

Abb. 9
Johann Daniel Pucklitz: Choral „Gleichwie sich fein ein Vögelein“ aus der Kantate „Ach Gott und Herr wie groß und schwer“, Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Danzig, Signatur Ms. Joh. 250.

../../fileadmin/user upload/Abb. 9 Pucklitz Choral

 

Im folgenden vierstimmigen Choralsatz (Strophe 9) Darin ich bleib, ob hie der Leib verdoppelt die Flaute piccolo wieder den Cantus firmus in Zweifußlage.

 

Der Tonumfang der Flaute piccolo reicht in dieser Kantate von notiert c2 bis e3, klingend von c3 bis e4. Dieser Umfang und die Notation im französischen Violinschlüssel deuten darauf hin, dass Pucklitz an eine Sopraninoblockflöte in f2 gedacht hat.

 

Anlässlich der Einweihung einer neuen Orgel in der Kirche „am Lazareth“ in Danzig am 8. Juni 1749 hat Pucklitz eine zweiteilige Kantate geschrieben. Der erste Teil, Saget Dank allezeit, wurde vor der Predigt aufgeführt, der zweite Teil, Ihr, die ihr eure Lust am Herrn habt, nach der Predigt.44 Im zweiten Teil ist der einzige Satz mit Flaute piccolo enthalten, die ungewöhnliche Arie Wie das Land erquickt ein warmer Regen.45 Ihr liegt als musikalisches Programm eine Naturschilderung zugrunde: Streicher und Basso continuo illustrieren Nebel und Regen, die Flaute piccolo imitiert Vogelgesang.

 

Abb. 10
Johann Daniel Pucklitz: Arie „Das Land erquickt ein warmer Regen“ aus der Kantate „Ihr, die ihr eure Lust am Herrn habt“, reduzierte Partitur aus: Johann Daniel Pucklitz: Herr, dessen Majestät weit über alle Himmel geht. Geistliche Naturszene für Sopran, Sopraninoblockflöte, Violine und Basso continuo; Magdeburg 2024, Edition Walhall EW1265.

../../fileadmin/user upload/Abb. 10 Pucklitz

 

Die Flötenstimme ist in der autographen Partitur und in der Originalstimme im französischen Violinschlüssel notiert und hat den notierten Umfang c2–f3, klingend c3–f4. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die Stimme für eine Sopraninoblockflöte in f2 bestimmt ist.

 

Abb. 11
Johann Daniel Pucklitz: Arie „Das Land erquickt ein warmer Regen“ aus der Kantate „Ihr, die ihr eure Lust am Herrn habt“, Originalstimme Flaute piccolo, Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Danzig, Signatur Ms. Joh. 252.
../../fileadmin/user upload/Abb. 11 Pucklitz Fl-Sti

 

 

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Johann Georg Röllig (1710–1790) besuchte die Dresdener Kreuzschule und war u.a. Schüler von Jan Dismas Zelenka. Zusätzlich zu seiner musikalischen Ausbildung studierte Röllig Theologie an der Universität Leipzig. 1737 berief ihn Fürst Johann August von Anhalt-Zerbst als Hoforganist und Violoncellist nach Zerbst. Röllig wurde dort 1758 als Nachfolger von Johann Friedrich Fasch (1688–1758) zum Hofkapellmeister ernannt.

 

In seinen Kantaten besetzte Röllig gelegentlich flutes douces, also Altblockflöten, die von den Oboisten gespielt wurden. Soweit bis jetzt bekannt, ist von Röllig nur ein Werk erhalten, in dem zwei Flauti piccoli besetzt sind. Es handelt sich um die Markus-Passion Die betrübte und getröstete Geistliche Sulamith, die 1750 am Zerbster Hof erstmals aufgeführt wurde. Als Hintergrund für die Betrachtung der Piccolopartien ist eine Zusammenfassung der ungewöhnlichen Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte dieses Werks erforderlich:

 

Von 1750 an komponierten Johann Friedrich Fasch und Johann Georg Röllig abwechselnd die umfangreichen Passionsmusiken für den Zerbster Hof. Zu diesen gehört auch Rölligs Markus-Passion. Dieses Werk wurde zwar schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Literatur erwähnt, geriet dann aber in Vergessenheit, weil kein Notenmaterial des Werkes bekannt war. Als 1985 in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln46 eine Partiturabschrift der Markus-Passion auftauchte, die sich jahrzehntelang in Privatbesitz befunden hatte, sorgte die nachträglich auf der ersten Notenseite und dem Umschlag angebrachte Zuschreibung „di Bach“ und „Passions-Cantatte von Ph. E. Bach“ für Verwirrung.

 

Abb. 12
Johann Georg Röllig: Markus-Passion „Die betrübte und getröstete Geistliche Sulamith“, Umschlag mit Zuschreibung an C. Ph. E. Bach, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Signatur 5 P 208.
../../fileadmin/user upload/Abb. 12 Umschlag
Abb. 13
Johann Georg Röllig: Markus-Passion „Die betrübte und getröstete Geistliche Sulamith“, erste Partiturseite mit der Zuschreibung „di Bach“, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Signatur 5 P 208.
../../fileadmin/user upload/Abb. 13 1 Notenseite

 

Um diese Zuschreibung zu überprüfen, kontaktierte der Entdecker der Handschrift, Harald Kümmerling (1927–2005), mehrere Bach-Forscher. Nachdem diese keine Beweise gegen die Autorschaft Carl Philipp Emanuel Bachs finden konnten, wurde das Werk von Kümmerling als Markus-Passion von Carl Philipp Emanuel Bach herausgegeben47 und 1986 unter Helmuth Rilling in Stuttgart erstmals aufgeführt.48 Im Verzeichnis der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs von E. Eugene Helm ist die Passion im Appendix als zweifelhaft unter der Nummer H 863 genannt.49

 

Die Überlieferungsgeschichte der Kölner Handschrift wurde 1995 von Gunter Quarg50 veröffentlicht. Er verwies dabei auf die Erkenntnisse von Hermann Wäschke51 und Bernhard Engelke52, welche die Passion schon 1906 bzw. 1908 dem Zerbster Hoforganisten und Kapellmeister Johann Georg Röllig zugewiesen haben. Offensichtlich war dies in Vergessenheit geraten, als es 1985/1986 um die Einordnung des Werkes ging.

 

1988 berichtete Renate Steiger53 über den Fund des gedruckten Textbuches einer Markus-Passion, die 1750 in der Zerbster Schloßkirche aufgeführt wurde. Dieses Textbuch entspricht zwar weitgehend der Kölner Partitur, es zeigt aber auch, dass diese nicht die Urfassung der Passion von 1750 überliefert. Es ist also davon auszugehen, dass später Kürzungen und Umarbeitungen vorgenommen wurden. Nigel Springthorpe54 konnte für das Jahr 1764 eine weitere Aufführung am gleichen Ort nachweisen.

 

Es ist unklar, in welchem Verhältnis die Kölner Partiturabschrift zu den beiden Zerbster Aufführungen steht. Unklar war anfangs auch, ob mit dem Eintrag Die Singstimen copirt. 23/4 53 auf S. 54 des Kölner Manuskripts 1753 oder 1853 gemeint ist.

 

Abb. 14
Johann Georg Röllig: Markus-Passion „Die betrübte und getröstete Geistliche Sulamith“, Partitur, S. 54, mit Datierung des Schreibers, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Signatur 5 P 208.
../../fileadmin/user upload/Abb. 14 Datierung

 

Christoph Wolff fand jedoch gute Argumente für die Deutung als 1853.55 Die Tatsache, dass die Kölner Partitur um 1820 zum Bestand der Leihbibliothek des Erfurter Musikalienhändlers J. Suppus gehörte,56 scheint dies zu bestätigen. Allerdings sind die 23 Stimmen, die im Umschlagtitel57 genannt werden und die um 1820 wohl noch vorhanden waren, mittlerweile verschollen.

 

In der Kölner Handschrift besteht die Passion aus vier Teilen,58 die nach der Zerbster Tradition in verschiedenen Gottesdiensten der Karwoche aufgeführt wurden.59 Durch eine wechselnde Orchesterbesetzung entstehen in den verschiedenen Teilen charakteristische Klangbilder: Flauto piccolo und Flauto traverso kommen nur im 2. Teil vor, jeweils paarweise besetzt, zwei Flauti d’amore nur im 4. Teil. Die Flauto traverso-Partien sind für die normale Traversflöte gedacht, die Stimmen für Flauto d’amore für Instrumente, die eine kleine Terz tiefer in A gestimmt sind.60 Die beiden Flauti piccoli sind nur in der Tenor-Arie Nr. 12 Mein Geist wird innerlich erquickt vorgeschrieben.

 

Abb. 15
Johann Georg Röllig: Markus-Passion „Die betrübte und getröstete Geistliche Sulamith“, Beginn der Arie Nr. 12 „Mein Geist wird innerlich erquickt“, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Signatur 5 P 208.
../../fileadmin/user upload/Abb. 15 Arie 12

 

Das Orchester besteht hier aus zwei Flauti piccoli, zwei Flauti traversi, zwei Fagotten, Streichern und Generalbass. Die drei Bläserpaare sind meistens unisono geführt, so dass die Fagotte die Traversi in der Unteroktave verdoppeln, die Flauti piccoli die Traversi in der Oberoktave. Die Flauto-piccolo-Stimmen sind wie die Traversflöten-Stimmen mit einem normalen Violinschlüssel versehen, allerdings durchgehend um eine Terz tiefer geschrieben. Offensichtlich waren die Piccoloflöten in der Vorlage für die Partiturabschrift im französischen Violinschlüssel notiert, der Schreiber der Partitur hat diese Notation aber nicht richtig verstanden. Er hat zwar den Notentext genau kopiert, nicht aber die um ein Spatium verschobene Lage des Violinschlüssels. Diese Eigenart der Quelle hat auch bei Nigel Springthorpe61 für Verwirrung gesorgt, wie Ian Abernethy62 schon 2009 festgestellt hat. Die Deutung der Notation der Flauti piccoli als französischen Violinschlüssel wird dadurch bestätigt, dass Röllig in seinen Kantaten die Stimmen für flauto dolce ebenfalls im französischen Violinschlüssel notiert hat,63 wie die meisten seiner deutschen Zeitgenossen. Dementsprechend liegt für die im französischen Violinschlüssel notierten Flauti piccoli die Annahme nahe, dass damit Sopraninoblockflöten in f2 gemeint sind.

 

Untersucht man den Tonumfang der beiden Piccolostimmen anhand der von Harald Kümmerling edierten Partitur, so beträgt dieser in der ersten Stimme notiert h1–e3, in der zweiten e1–e3. In der handschriftlichen Kölner Partitur sind allerdings zahlreiche Takte der Piccolostimmen nicht ausgeschrieben, sondern durch Kustoden als Unisonoführungen mit den Flauti traversi und den Fagotten kenntlich gemacht. Zu diesen Stellen gehört auch der Takt 123, in dem zweimal das notierte e1 vorkommt.

 

Abb. 16
Johann Georg Röllig: Markus-Passion „Die betrübte und getröstete Geistliche Sulamith“, Takte 119–126, Partiturfolge: Flauto piccolo I, Flauto piccolo II, Flauto traverso I, Flauto traverso II, Fagotto I, Fagotto II, Streicher, Tenor, Basso continuo.
../../fileadmin/user upload/Abb. 16 T 123

 

Kümmerling überträgt die Stelle so:

Abb. 17
Carl Philipp Emanuel Bach [recte: Johann Georg Röllig]: Markus-Passion, Arie Nr. 12 „Mein Geist wird innerlich erquickt“, Takte 121–127, Partiturfolge: Flauto piccolo I/II, Flauto traverso I/II, Fagotto I/II, Streicher, Tenor, Basso continuo. Edition Dohr 97426.

../../fileadmin/user upload/Abb. 17  T 121

 

Es ist also nicht sicher, dass das tiefe e1 des Flauto piccolo II in der Vorlage stand. Vielleicht hat der Verfasser der Abschrift eine vom Unisono abweichende Variante übersehen und deshalb nicht übertragen. Jedenfalls scheint die hier vorkommende Umfangsunterschreitung kein zwingendes Argument gegen eine Ausführung der Flauto piccolo-Partien mit Sopraninoblockflöten zu sein.64

 

Eine andere Hypothese zu den Flauti piccoli in Rölligs Markus-Passion geht auf Barbara M. Reul65 zurück. Sie berichtet anhand der Inventarverzeichnisse der Zerbster Hofkapelle, dass 1774 zwei Flageolets vorhanden waren, die im Inventar von 1743 nicht explizit erwähnt wurden. Ob diese Instrumente 1743 zu den verzeichneten sechs Flöten66 gezählt oder ob sie zwischen 1743 und 1774 neu angeschafft wurden, muss offen bleiben. Es muss jedoch mindestens für die Aufführung von 1764 mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass die beiden Flageoletts aus dem Fundus der Hofkapelle in der Markus-Passion Rölligs zum Einsatz kamen. Hätte es sich bei diesen Instrumenten um französische Flageoletts in g2 gehandelt, wäre auch das notierte e1 in der 2. Stimme spielbar gewesen,67 das auf Sopraninoblockflöten nicht erreichbar ist. Die Notation der beiden Partien im französischen Violinschlüssel ist allerdings für die deutsche Flageolett-Spielpraxis eher untypisch.

 

Die Arie Nr. 12 Mein Geist wird innerlich erquickt ist in der überlieferten Form satztechnisch ungewöhnlich: Die beiden Flauti traversi werden meist in Terzen geführt und – wie schon erwähnt – fast durchgehend in der Oberoktave von den beiden Flauti piccoli verdoppelt, außerdem von den Fagotten in der Unteroktave. (siehe Abb. 15) In einigen Takten, die in den Querflöten hoch liegen, sind auch die Violinen an der Unisonoführung beteiligt, so dass Verdoppelungen in vier Oktavlagen entstehen.

 

Abb. 18
Carl Philipp Emanuel Bach [recte: Johann Georg Röllig]: Markus-Passion, Arie Nr. 12 „Mein Geist wird innerlich erquickt“, Takte 58–64, Partiturfolge: Flauto piccolo I/II, Flauto traverso I/II, Fagotto I/II, Streicher, Tenor, Basso continuo. Edition Dohr 97426.
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Nigel Springthorpe68 kommentiert die Unisonoführungen so: The consequential parallel running thirds spread across tree octaves even anticipate a characteristic of Brahmsian style. Außerdem verweist er auf die Arie Ein Gebet um neue Stärke aus Der Tod Jesu (1755) von Carl Heinrich Graun, in der die Violinen in gleicher Lage mit Traversflöten und in der Unteroktave mit Fagotten verdoppelt werden. Nach Ulrich Prinz, der 1986 die Erstaufführung der Markus-Passion wissenschaftlich betreute, kann diese Instrumentation als frühe Form des „Wiener Unisonos“ gedeutet werden.69 Die problematische Satztechnik könnte jedoch auch erst bei der Erstellung der Kölner Partiturabschrift entstanden sein, für die nach der Ansicht der Organisatoren der Stuttgarter Erstaufführung „sicherlich keine Partitur, möglicherweise ein Particell“70 als Vorlage gedient hat. Noch wahrscheinlicher ist es allerdings, dass die Kölner Partitur aus dem Stimmenmaterial verschiedener Aufführungen zusammengestellt wurde. Dabei könnten dann auch Stimmen eingeflossen sein, die anlässlich einer späteren Aufführung als Ersatz für nicht vorhandene Sonderinstrumente erstellt worden waren.71 Denkbar ist es z. B., dass die Piccoloflöten durch Fagotte ersetzt wurden oder umgekehrt.72 So würden sich die Parallelführungen von drei bis vier Registern auf zwei bis drei reduzieren. Ohne neue Quellenfunde muss diese Vermutung jedoch Hypothese bleiben.

 

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Zum Verständnis der Flauto-piccolo-Stimmen des 18. Jahrhunderts wäre es sicher sinnvoll, auch noch weitere Werke in die Betrachtungen einzubeziehen, die bezüglich der Flötenstimmen weniger komplex sind als die hier betrachteten von Gottfried Heinrich Stölzel und Johann Georg Röllig. Als Beispiele sind zu nennen: Georg Heinrich Schürmann, Ihr kleinen Sänger dieser Wälder (1718)73, Matthew Dubourg, The lark’s shrill notes (1748)74 und Angelus Anton Eisenmann, Concerto F-Dur (um 1785)75. Bezüglich der Bestimmung der Flautino- bzw. Flauto piccolo-Stimmen für Sopraninoblockflöte sind bei diesen Werken keine weiteren Erklärungen notwendig, sie ergänzen jedoch unser Bild vom Repertoire mit hohen Blockflöten.

 

Von den Beobachtungen an Werken mit kleinen Blockflöten könnte ein Impuls für den Bau und die Verwendung verschiedener Instrumententypen ausgehen. Viele professionelle Blockflötisten zögern noch immer, sich mit dem französischen Flageolett zu beschäftigen – vielleicht deshalb, weil Instrumente, die für Vivaldi-Konzerte (und für Arien von Scarlatti, Händel, Gasparini, Torri u. a.) geeignet sind, leider nur selten angeboten werden. Das könnte sich wohl ändern, wenn die Nachfrage steigen würde. – Wie bei Altblockflöten76 ist bei den kleinen Blockflöten nicht jeder Instrumententyp für jede Komposition gleich gut geeignet: Partien, die ursprünglich für Flageoletts geschrieben wurden, klingen z. B. auf frühbarocken oder länger mensurierten Barock-Sopraninos besser als auf engmensurierten. Dagegen sind für hoch liegende Flautino-Partien wie die von Schürmann und Pucklitz eher engmensurierte Instrumente zu empfehlen. Bei Werken, zu denen die Untersuchungen zum Instrumentarium bisher keine eindeutigen Ergebnisse liefern können (z. B. bei der Markus-Passion von Röllig), sind wir jedoch weiterhin darauf angewiesen, durch Experimentieren zu musikalisch sinnvollen Lösungen zu gelangen.

 

 

Anmerkungen:

[1] Zum damaligen Forschungsstand siehe Peter Thalheimer: „Flautino“ und „Flasolet“ bei Antonio Vivaldi; in: Sine musica nulla vita. Festschrift Hermann Moeck, Celle 1997, S. 155–168; auch in: Tibia 23(2) (1998), S. 97–105.

[2] Winfried Michel: Vivaldis Konzerte ‘per flautino’ in ihrer wahren Gestalt: Ein letzter Leseversuch; in: Tibia 23(2) (1998), S. 106–111. Siehe dazu auch: Peter Thalheimer: Vivaldis Concerti „per Flautino“ – „alla quarta bassa“? Ein Brief an Winfried Michel; in: Tibia 24(1) (1999), S. 426–428, dort versehentlich ohne die vorgesehene Überschrift abgedruckt.

[3] Julia Wetzel: Flautino bei Vivaldi. Eine flötige Bestandsaufnahme; in: Windkanal 2022-4, S. 13–17.

[4] Nik Tarasov: Flageolet – das kleine Unbekannte; in: Windkanal 2023-1, S. 14–27; Nik Tarasov: Flautino und kein Ende; in: Windkanal 2023-1, S. 28–31.

[5] Eine aktualisierte Literaturliste zum Flautino bei Vivaldi liegt im Bonusmaterial zu Windkanal 2022-4 und 2023-1 vor. www.windkanal.de.

[6] Lenz Meierott: Die geschichtliche Entwicklung der kleinen Flötentypen und ihre Verwendung in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts; Tutzing 1974.

[7] Siehe dazu: Franz Müller-Busch: Alessandro Scarlattis Kantaten mit obligaten Blockflöten; in: Tibia 16(1) (1991), S. 337–346, und Inês d’Avena: Die Blockflöte in Neapel 1695–1759; in: Tibia 44(3) (2019), S. 483–501. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass in den vielen unveröffentlichten Partituren Scarlattis weitere Flautino-Partien enthalten sind.

[8] Erstdruck Magdeburg 2015, Edition Walhall EW978.

[9] British Library London, Signatur R.M.23.f.4, No. 41, fol. 68v – 69v.

[10] Erstdruck Richmond 2005, Green Man Press Sca 5.

[11] Einzelausgabe in: Flauto e Voce 13, Magdeburg 2018, Edition Walhall EW1040.

[12] Collegio Nazareno Rom, Signatur REG. M. 35, fol. 64r – 71r.

[13] Erstdruck Celle 2023, Girolamo Musikverlag G 11.017.

[14] Vgl. Peter Thalheimer (1997/1998).

[15] Faksimile Florenz 1978; deutsche und englische Übersetzung und Kommentar von Bruce Dickey, Petra Leonards und Edward H. Tarr; in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis II 1978, S. 143–187.

[16] Filippo B(u)onanni (1638–1725): Gabinetto armonico; Rom 1722/23, S. 60–61. Zweite, korrigierte und erweiterte Auflage: Description Des Instruments Harmoniques En tout Genere; Rom 1776, Faksimile Leipzig und Kassel 1975, S. 71–72.

[17] Im heutigen Italienisch wird unter Ottavino die Boehm-Piccoloflöte verstanden.

[18] Vgl. Peter Thalheimer (1997/1998) und Nik Tarasov (2023), S. 28–31.

[19] Siehe Nik Tarasov (2023), S. 31.

[20] Antonio Vivaldi: Di due rai languire RV 749, für Sopran, 2 flasolet, Streicher und Basso continuo, Erstausgabe Edition Walhall EW951.

[21] Vgl. Fritz Hennenberg: Das Kantatenschaffen von Gottfried Heinrich Stölzel; Leipzig 1976, und RISM opac.

[22] Bert Siegmund: Gottfried Heinrich Stölzel; in: MGG 2, Bd. 15, Sp.1553f.

[23] Hans Oskar Koch: Sonderformen der Blasinstrumente in der deutschen Musik vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts; Diss. Heidelberg 1980, S. 63.

[24] Siehe dazu Peter Thalheimer: Die Terzquerflöte in Es. Baugeschichte, Repertoire und Spielpraxis; in: Musica Instrumentalis, Band 3, Nürnberg 2001, S. 36.

[25] Siehe dazu Peter Thalheimer: Flauto d'amore, B flat Tenor Flute und „tiefe Quartflöte“. Ein Beitrag zur Geschichte der tiefen Querflöten im 18. und 19. Jahrhundert; in: Tibia 8(2) (1983), S. 337.

[26] Stuttgart 2022, Cornetto-Verlag CP1649. Quelle: Schlossmuseum Sondershausen, Signatur Mus. A 15:38.

[27] Nach Bert Siegmund, a.a.O., wurden in Gotha und Sondershausen in der Regel während eines Gottesdienstes zwei Kantaten aufgeführt, je eine zur Epistel und zur Predigt.

[28] Fritz Hennenberg (1976), S. 91.

[29] Schlossmuseum Sondershausen, Signatur Mus. A 15:39.

[30] Der französische Violinschlüssel war in Deutschland allgemein üblich für die Altblockflöte in f1, nicht aber für das Flageolett. Den Flauto traverso und den Flauto traverso piccolo notiert Stölzel im gewöhnlichen Violinschlüssel.

[31] Manfred Fechner kommt in seinen Anmerkungen zu Stölzels Weihnachtskantaten von 1736/37 zu einem ähnlichen Ergebnis; CD-Booklet zu Gottfried Heinrich Stölzel, Christmas Oratorio, cpo 999 735, Georgsmarienhütte 2000, S. 19.

[32] In Kammerton-Notation bis es3. Damalige Orgeln hatten jedoch nur einen Manualumfang bis c3 oder d3.

[33] London 1949, Schott ES 10369, Voice and Recorder 5.

[34] London 1954, Schott ES 5793, Voice and Recorder 13.

[35] Celle 2023, Girolamo G 11.017.

[36] London 1959, Schott ES 6212, Voice and Recorder 16.

[37] Zu den „Small Flutes“ zählten alle Blockflöten, die höher als die Altblockflöte in f1 gestimmt waren, also Instrumente in a1, b1, c2, d2 und f2.

[38] Praktische Ausgabe: Georg Friedrich Händel: Augelletti, che cantate / Il volo cosi fido. 2 Arien für Sopran, obl. Blockflöten, Streicher und B. c. Hamburg 1960, Edition Sikorski 539.

[39] Vgl. Johann Christoph Pepusch: Chirping warblers, Arie für Mezzosopran, Sopraninoblockflöte, Violine, Viola und Basso continuo; Magdeburg 2015, Edition Walhall EW980, und David Ronald Graham Lasocki, Professional Recorder Players in England, 1540-1740. Diss. University of Iowa 1983, S. 433 und S. 841f.

[40] Douglas MacMillan: The Flageolet in England 1660–1914; Woodbridge 2020, S. 30.

[41] z. B. in der Choralkantate O Lamm Gottes, unschuldig, Erstdruck in Danziger Kirchenmusik, Stuttgart 1973, S. 330–343.

[42] Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Danzig, Signatur Ms. Joh. 250.

[43] Diese und die folgende Strophe wurden von dem Weimarer Diakon Johannes Major verfasst. Sie erweiterten die ursprünglichen sechs Strophen des Liedes Ach Gott und Herr, wie groß und schwer von Martin Rutilius (1550–1618). Siehe dazu: Caspar Binder: Historischer Erweiß, Jena 1726, S. 6ff.

[44] Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Danzig, Signatur Ms. Joh. 252.

[45] Erstdruck unter dem Titel des vorangehenden Secco-Rezitativs: Johann Daniel Pucklitz: Herr, dessen Majestät weit über alle Himmel geht. Geistliche Naturszene für Sopran, Sopraninoblockflöte, Violine und Basso continuo; Magdeburg 2024, Edition Walhall EW1265.

[46] Signatur 5 P 208.

[47] Erstausgabe Köln 1987 (Fusa-Verlag), 1997 übertragen auf die Edition Dohr 97426. Ein schriftlicher Beitrag Kümmerlings zu seinem Fund wurde zwar für den Jahrgang 1987 der Zeitschrift „FUSA. Journal für Kenner und Liebhaber von Kunst/Literatur/Musik“ angekündigt, dieser ist jedoch nie erschienen (telefonische Mitteilung von Christoph Dohr, Mai 2023).

[48] Mitschnitt der Erstaufführung: CBS M2K 42511.

[49] E. Eugene Helm: Thematic Catalogue of the Works of Carl Philipp Emanuel Bach; New Haven and London 1989, S. 229.

[50] Gunter Quarg: „Passions-Cantatte von Ph. E. Bach“. Zur Kölner Markus-Passion; in: Musik und Kirche 65 (1995), S. 62–71.

[51] Hermann Wäschke: Die Zerbster Hofkapelle unter Fasch; in: Zerbster Jahrbuch 2 (1906), S. 60.

[52] Bernhard Engelke: Johann Friedrich Fasch. Sein Leben und seine Tätigkeit als Vokalkomponist; Diss. Leipzig 1908, S. 44.

[53] Renate Steiger: Das Textbuch der C. Ph. E. Bach zugeschriebenen Markus-Passion; in: Musik und Kirche 2/1988, S. 72–76.

[54] Nigel Springthorpe: The Zerbst Passion Tradition; in: Johann Friedrich Fasch und sein Wirken für Zerbst. Bericht über die internationale wissenschaftliche Konferenz am 18. und 19. April 1997 im Rahmen der Fasch-Festtage in Zerbst, Dessau 1997 (Fasch-Studien, Band VI), S. 101–113. – Nigel Springthorpe: Who was Röllig? Röllig and the Sing-Akademie collection; in: Musik an der Zerbster Residenz. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz vom 10. bis 12. April 2008 im Rahmen der 10. Internationalen Fasch-Festtage in Zerbst. Herausgegeben von der Stadt Zerbst/Anhalt in Zusammenarbeit mit der Internationalen Fasch-Gesellschaft e. V., Beeskow 2008 (Fasch-Studien, Band X), S. 117–140, speziell S. 122f.

[55] Referiert von Gunter Quarg (1995), S. 63.

[56] Gunter Quarg (1995), S. 63.

[57] Passions-Cantatte |von | Ph. E. Bach | Partitur und 23 Stimmen.

[58] Die Fassung von 1750 bestand allerdings aus fünf Teilen.

[59] Nigel Springthorpe (1997), S. 107.

[60] Nur in der Aria Nr. 14 Der Fels, vor dem die Felsen zittern. Vgl. dazu Peter Thalheimer (1983), S. 334–342, und ders., Das Repertoire für Flauto d’amore; in: Tibia 40(3) (2015), S. 483–495.

[61] Nigel Springthorpe: Recorders in the repertoire of the court of Anhalt-Zerbst; in: The Recorder Magazine 29 (2009), No. 3, S. 90–98.

[62] Leserbrief in: The Recorder Magazine 29 (2009), No. 4, S. 157.

[63] z. B. in Rölligs Kantate Das Volk, so im Finstern wandelt, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Signatur Mus. ms. 15533.

[64] Bei der ersten Wiederaufführung 1986 wurden langmensurierte Sopraninoblockflöten von Joachim Paetzold gespielt.

[65] Barbara M. Reul: Musical life at the court of Anhalt-Zerbst: An examination of unknown primary sources at the Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Dessau; in: Musik an der Zerbster Residenz. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz vom 10. bis 12. April 2008 im Rahmen der 10. Internationalen Fasch-Festtage in Zerbst. Herausgegeben von der Stadt Zerbst/Anhalt in Zusammenarbeit mit der Internationalen Fasch-Gesellschaft e. V., Beeskow 2008 (Fasch-Studien, Band X), S. 215.

[66] Concert-Stube des Zerbster Schlosses. Inventarverzeichnis, aufgestellt im März 1743, Faksimileausgabe mit Nachwort von E. Thom, Michaelstein 1983 (Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts. Dokumentationen, Reprints, 4), S. 127.

[67 ] Zu der entsprechenden Spieltechnik siehe Nik Tarasov (2023), S. 18 und 31.

[68] Nigel Springthorpe (2009), S. 93.

[69] Persönliche Mitteilung (1986) von Dr. Ulrich Prinz an den Verfasser.

[70] Harald Kümmerling, Ulrich Prinz, Sabine Tomek: Quellen- und Werkbeschreibung; in: Booklet zur CD CBS M2K 42511, New York 1986, S. 12.

[71] So führten z. B. die Einzelstimmen für Solovioline bzw. Traversflöte, die J. S. Bach bei Wiederaufführungen seiner Kantaten BWV 96 und 103 für die ursprünglichen Flauto piccolo-Stimmen erstellen ließ, bei der Edition der alten Bach-Gesamtausgabe zur Koppelung der beiden Besetzungsmöglichkeiten und zu Aufführungen mit Oktavverdopplungen.

[72] So hat z. B. Rölligs Zeitgenosse Johann Wendelin Glaser in seiner Kantate Er hatte keine Gestalt zwei solistische Fagotte später – zwei Oktaven höher – durch zwei Traversflöten ersetzt. Vgl: Johann Wendelin Glaser (1713–1783): Ausgewählte Kantaten, vorgelegt von Andreas Traub und Marco Jammermann, München 1998 (Denkmäler der Musik in Baden-Württemberg, Bd. 6), S. 191ff.

[73] Erstdruck in: Flauto e Voce IX, Carus-Verlag CV 11.242.

[74] Neuausgabe in: Flauto e Voce 17, Edition Walhall EW1146.

[75] Erstdruck: Edition Moeck EM 1058.

[76] Vgl. Peter Thalheimer: Denner for ever? Barocke Blockflötenmodelle und ihre Wechselwirkungen mit dem Repertoire. Tibia online 10.03.2020.

 

 

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